Interview von Jean Asselborn mit dem Tageblatt

Jean Asselborn: "Es handelt sich beim Krieg in der Ukraine nicht mehr um einen eingefrorenen Konflikt."

Interview: Tageblatt (Dhiraj Sabharwal)

Tageblatt: Waren Sie in der Vergangenheit schon im Donbass?

Jean Asselborn: Ich war bereits mehr als sechs Mal in der Ukraine. Es ist aber das erste Mal, dass ich im Donbass war.

Tageblatt: Wie sind Sie in das Kriegsgebiet gelangt? 

Jean Asselborn: Ich bin mit einem regulären Flug von Frankfurt nach Kiew geflogen. Dann von Kiew nach Dnipro. Das dauert etwa eine Stunde. Dann sind wir mit einem gepanzerten Helikopter auf einer Höhe von 50 Metern von Dnipro nach Mariupol geflogen. Und von Mariupol ging es schließlich mit einem gepanzerten Wagen von Mariupol nach Schyrokyne gefahren.

Tageblatt: Schyrokyne dürfte für die meisten Menschen kein Begriff sein. Um was für eine Stadt handelt es sich?

Jean Asselborn: Das ist eigentlich eine Stadt, die vor dem Krieg sehr schick war und östlich von Mariupol am Meer liegt. Das Ganze hat mich ein wenig an meinen Aufenthalt in der Nähe der irakischen IS-Hochburg Mossul erinnert. Die Dörfer und Schulen wurden komplett zerstört, niemand wohnt mehr dort. Der einzige Unterschied ist, dass es hier keine Flüchtlingslager gibt. Wer dort vertrieben wurde, lebt mittlerweile in Mariupol. Das ist nicht das Werk von ein paar Individualisten, sondern von einer Armee, die dort gewütet hat.

Tageblatt: Die Umsetzung des Minsker Abkommens stockt immer noch. Wieso? 

Jean Asselborn: Was gebraucht wird, ist ein Waffenstillstand. Solange es keinen Waffenstillstand gibt, verschwindet der Hass nicht. An einen Wiederaufbau braucht man dann gar nicht mehr zu denken. Um Minsk eine Chance zu geben, braucht es den Waffenstillstand. Die schweren Waffen, die auf beiden Seiten zum Einsatz kommen, müssen ruhen.

Tageblatt: Es braucht demnach Kooperationswillen auf beiden Seiten. 

Jean Asselborn: Diese Zerstörung hat innerhalb des Territoriums der Ukraine stattgefunden. Auf Seite der Separatisten kommen 470 russische Panzer zum Einsatz. Aber es stimmt: Damit Minsk eine Chance hat, muss solch schweres Geschütz weg — sowohl auf ukrainischer als auch auf russischer Seite. Allerdings darf man nicht vergessen, dass all dies auf ukrainischem Territorium stattfindet.

Tageblatt: Kann man die Lage in der Ostukraine überhaupt noch als "frozen conflict" bezeichnen? 

Jean Asselborn: Nein. Es handelt sich beim Krieg in der Ukraine nicht mehr um einen eingefrorenen Konflikt. Es ist eine Region, in der militärische Operationen im Rahmen eines Krieges stattfinden. 

Tageblatt: Wie steht es um die humanitäre Situation in der Region?

Jean Asselborn: Wir haben in Dnipro das Mechnikova-Krankenhaus besichtigt. Es ist darauf spezialisiert, Soldaten, aber auch Zivilisten aus der Region zu behandeln. Die Ärzte, die dort arbeiten, sind wirklich Helden. Man sieht zudem enorm viel menschliches Leid. Wir haben einen jungen Soldaten von 19 Jahren gesehen, der im Krieg beide Beine verlor. Niemand weiß, ob er überlebt. Er wurde auf ukrainischem Territorium getroffen. Es verdeutlicht einfach, welch schreckliche Konsequenzen ein bewaffneter Konflikt mit sich zieht. Man stellt sich die Frage, weshalb so etwas passieren muss. 

Tageblatt: Wie unterstützt Luxembourg die Ukraine?

Jean Asselborn: Luxemburg hat der Ukraine bislang mit insgesamt sieben Millionen Euro geholfen. Darunter fällt der neue Tschernobyl-Sarkophag, aber auch humanitäre Hilfe. In Mariupol gibt es ein Krankenhaus, das sich um die psychologische Betreuung von Kindern kümmert. Wir helfen dabei, diese Klinik wiederaufzubauen. Wir wollen auch das Krankenhaus Mechnikova in Dnipro unterstützen.

Tageblatt: Welches Business verbindet Luxemburg und die Ukraine? 

Jean Asselborn: Das luxemburgische Satelliten-Unternehmen SES ist in der Ukraine stark präsent. 65 Prozent der Fernsehübertragungen werden durch Satelliten der SES gewährleistet. ArcelorMittal hat seit 2015 einen Investitionsplan von 1,2 Milliarden Dollar in der Ukraine laufen. Cargolux will zudem mit dem ukrainischen Flugzeugproduzenten Antonow zusammenarbeiten.

Tageblatt: Wie steht es um das Doppelbesteuerungsabkommen zwischen Luxemburg und der Ukraine? 

Jean Asselborn: Es gibt auch ein Doppelbesteuerungsabkommen, an dem wir seit vier Jahren arbeiten. Es wurde am 30. September 2016 vom ukrainischen Finanzminister unterschrieben. Und - oh Wunder - heute Morgen wurde das  Doppelbesteuerungsabkommen auf die Tagesordnung des ukrainischen Parlaments, der Rada, gesetzt. Ich habe mich um 8 Uhr morgens mit den zuständigen Personen der Finanzkommission getroffen. Zu diesem Zeitpunkt gab es noch eine gewisse Unsicherheit. 

Tageblatt: Wie haben Sie reagiert?

Jean Asselborn: Ich habe betont, dass das Abkommen sehr wichtig wäre für die Investitionen Luxemburgs in der Ukraine. Beide Länder seien zudem OECD-Mitglieder in Paris.
Wenn wir also normale Investitionen aus Luxemburg in der Ukraine vorantreiben wollten wie jene von SES oder Arcelor-Mittal, so wäre es positiv, wenn die Rada für das Abkommen stimmen würde. 

Tageblatt: Wie ging die Abstimmung aus? 

Jean Asselborn: Um 11 Uhr wurde das Gesetz in der Rada angenommen. Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko hat sich sehr darüber gefreut. Das gilt auch für uns. Wir waren einer der letzten EU-Mitgliedstaaten, die noch kein Doppelbesteuerungsabkommen der neuen Generation mit der Ukraine hatten. Deswegen haben wir gehandelt. 

Tagbelatt: Wie steht es um die Visa-Liberalisierung für Bürger aus der Ukraine? 

Jean Asselborn: Wir arbeiten in der Europäischen Union daran, die Visa-Liberalisierung voranzutreiben. Das ist ein sehr wichtiger Punkt für Menschen in der Ukraine. Auf diese Weise würden sie für drei Monate ein Schengen-Visum ohne Formalitäten erhalten.

Tageblatt: Die Korruption ist und bleibt ein zentrales Problem der Ukraine. Welchen Eindruck haben Sie? 

Jean Asselborn: Ich habe mich mit Präsident Petro Poroschenko auch über den Reformprozess der Justiz und die Bekämpfung von Korruption unterhalten. Es werden große Anstrengungen unternommen. 

Dernière mise à jour