Interview von Jean Asselborn mit dem Tageblatt

"Luxemburg überlebt nicht ohne die EU. Die Überlebenschancen tendieren ohne EU gen Null."

Interview: Tageblatt (Dhraj Sabharwal)

Tageblatt: Sie sind persönlich mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier befreundet. Sein neues Amt fordert noch mehr Formalismus. Können Sie den intensiven Austausch aufrecht erhalten? 

Jean Asselborn: In all den Jahren, als Heinz Fischer noch Österreichs Bundespräsident und Steinmeier Außenminister war, ist eine Beziehung entstanden, die selbstverständlich auf unserer politischen Blutgruppe basierte. Aber auch auf Freundschaft. Wenn Menschen den gleichen Sinn für Humor teilen, dann bringen sie es auch fertig, gemeinsam an Lösungen zu arbeiten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das sich jetzt ändert.

Tageblatt: Sie werden sich aber nicht mehr bei den Räten für Auswärtige Angelegenheiten sehen. Der Bundespräsident mischt sich zudem im Vergleich zum Kanzler oder dem Außenminister weniger ins Tagesgeschäft ein. 

Jean Asselborn: Wir haben noch unsere Telefonnummern und E-Mail-Adressen. Wir haben uns während der letzten Wochen fast jeden zweiten Tag unterhalten. Das bleibt auch so. Natürlich muss ich respektieren, dass er kein aktiver Politiker ist, der sich ständig mit der Aktualität beschäftigt. Ich glaube aber trotzdem, dass er immer noch ein Außenpolitiker von großem Format ist. Das ist für mich persönlich qualitativ von großem Wert. 

Tageblatt: Was für eine Haltung erwarten Sie von ihm?

Jean Asselborn: So, wie ich Frank-Walter Steinmeier kenne, bin ich davon überzeugt, dass er sich für eine humane und solidarische Gesellschaft einsetzt. Für eine Gesellschaft, die weder auf Abschottung noch auf Egoismus setzt. Wenn das in Deutschland greift, hat es selbstverständlich einen Einfluss auf Europa.

Tageblatt: Welche Vorteile hat er als ehemaliger Chefdiplomat auf seinem neuen Posten? 

Jean Asselborn: Er kennt die Zusammenhänge der internationalen Politik. Das bedeutet Folgendes: Die Vernunft sagt uns, dass Terror, Kriminalität, Klimawandel und ähnlich komplexe Probleme nicht gelöst werden, indem man auf die nationalistische Schiene setzt. In Finanz- und Wirtschaftsfragen hilft es ebenfalls nicht, wenn jeder versucht, andere Staaten gegeneinander auszuspielen. Dann sind wir wieder ganz schnell im Nationalismus. 

Tageblatt: Das ist doch bereits der Fall.

Jean Asselborn: Man muss immer wieder aus der Geschichte lernen und nicht die falschen Schlussfolgerungen aus ihr ziehen. Deshalb brauchen wir Europa, um diese Herausforderungen zu meistern. Europa hat seit 1945 gelernt, dass man auf eine außenpolitische Hygiene setzen muss.  

Tageblatt: Was verstehen Sie unter "Außenpolitischer Hygiene"? 

Jean Asselborn: Unter außenpolitischer Hygiene verstehe ich den Respekt vor dem internationalen Recht. Es gibt keinen Frieden oder Stabilität auf diesem Planeten und es werden sicherlich keine Lösungen gefunden, wenn man gegen den Multilateralismus ist. 

Tageblatt: Worin äußert sich der Kampf gegen den Multilateralismus?

Jean Asselborn: Gegen den Multilateralismus sein bedeutet, gegen die UNO und alle internationalen Organisationen zu sein. Auch ein großes Land in Europa wie Deutschland hat keine Chance, wenn es nationalistische Thesen nach vorne bringt und damit Probleme zu lösen versucht. 

Tageblatt: Dennoch ist Steinmeier trotz seiner allseits anerkannten Kompetenzen "nur" Präsident und nicht Bundeskanzler. Was kann er bewegen? 

Jean Asselborn: Ich glaube, dass Frank-Walter Steinmeier es fertigbringt, die Begriffe, Interessen und Werte sehr nah aneinanderrücken zu lassen. Das sollte man nicht unterschätzen. 

Tageblatt: Sie haben in Berlin auch SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz getroffen. Überrascht Sie der Schulz-Effekt?

Jean Asselborn: Ich mische mich als Außenminister nicht in die Parteipolitik Deutschlands ein. Ich glaube aber, dass etwas passiert ist, das über die Person von Martin Schulz hinausgeht. Schulz ist ein Europapolitiker und das weiß auch jeder Mensch in Deutschland. Er ist ein Außenpolitiker, der europäische, vernünftige Politik immer sehr hoch gehalten hat. Dass das mit Blick auf die öffentliche Meinung so einschlägt, ist ein positives Zeichen.

Tageblatt: Europapolitik reicht aber nicht aus, um heutzutage Wähler zu begeistern. 

Jean Asselborn: Ich glaube, dass in der Nominierung von Schulz etwas in der SPD befreit wurde, das seit der Agenda 2010 blockiert war. Die SPD hat damals über 10 Prozent verloren. Jetzt treten wieder viel mehr Menschen der SPD bei. Martin Schulz ist jemand, dessen Kernaussage die soziale Gerechtigkeit ist. Soziale Gerechtigkeit ist kein Slogan aus dem 19. oder 20. Jahrhundert — sie ist mehr denn je eine Notwendigkeit im 21. Jahrhundert. 

Tageblatt: Können die Sozialdemokraten dies denn glaubwürdig verkörpern? 

Jean Asselborn: Auch wenn man die soziale Ungerechtigkeit in Deutschland oder in Luxemburg weniger spürt als zum Beispiel in Italien, Spanien oder in anderen EU-Mitgliedstaaten: Ein Europa, das sozialpolitisch verlorene Generationen produziert, ist ein Europa, das nicht überlebensfähig ist. Ich glaube, dass diese Botschaft aufgrund der Nominierung von Martin Schulz über die SPD-Grenzen hinaus in Deutschland Gehör gefunden hat. Und auch sehr ernst genommen wird. 

Tageblatt: Unterdessen regiert ein Präsident In den USA, der lauthals verkündet, soziale Ungerechtigkeit sei durch Isolationismus besiegbar.

Jean Asselborn: Das hat man bei der Wahl von Donald Trump klar gesehen. Er hat sieh als Milliardär als jene Person inszeniert, die in der Lage sei, die negativen Auswirkungen der Globalisierung abzufedern. Vor allem die Arbeiter- und Mittelschicht haben ihm geglaubt. Die Globalisierung hat unsere Welt tatsächlich stark verändert. 

Tageblatt: Welche Folgen hat Trumps Politik für Europa?

Jean Asselborn: Es entstehen unterschiedliche populistische Bewegungen mit neuen Schwerpunkten. Man erinnere sich: Rechte Bewegungen wie jene von Jean-Marie Le Pen basierten stets auf der Ablehnung von „Fremden", die Sozialsysteme angeblich ausräumen würden. Es war also die sozialpolitische Dimension, mit der die Rechten spielten. Es wurde behauptet, sie würden auf unsere Kosten leben und unsere Identität gefährden. Was seit 2007, 2008 hinzugekommen ist, sind die anti-europäischen Thesen.

Tageblatt: Welche Gefahr ergibt sich aus dieser neuen Schwerpunktsetzung?

Jean Asselborn: Anti-europäische Thesen waren in älteren rechtspopulistischen Bewegungen nicht derart stark ausgeprägt, wie sie es jetzt sind. Die Gefahr besteht darin, die Dinge so zu vereinfachen, dass man behauptet, Terrorismus könne etwa bekämpft werden, indem die Grenzen geschlossen würden. Oder in der Flüchtlingspolitik sowie beim Klimaschutz könne jedes Land selber entscheiden, wie es vorgehe. Der Rückzug ins Nationale als Lösung unserer Probleme ist eine Illusion. Dies zu verdeutlichen, ist die große Herausforderung unserer Zeit. 

Tageblatt: Könnte Luxemburg ohne die EU funktionieren? 

Jean Asselborn: Luxemburg überlebt nicht ohne die EU. Die Überlebenschancen tendieren ohne EU gen Null.

Tageblatt: Hört man so manchem Zeitgenossen im politischen Luxemburg zu, ist Euroskepsis keine Seltenheit.

Jean Asselborn: Gerade ein Land wie Luxemburg braucht die EU. Wir können uns in diesem globalen Gebilde nicht selbst verteidigen - weder mit Blick auf Sicherheitsfragen noch vor dem Hintergrund globaler Wirtschafts- und Finanzentwicklungen. Wir haben nur eine Chance: Im Rahmen der EU müssen starke Rahmenbedingungen existieren, damit ein Land wie Luxemburg sich so entwickeln kann, wie Luxemburg es in den letzten Jahrzehnten getan hat. Ohne die EU wäre Luxemburg nicht dort, wo es jetzt ist.

Tageblatt: Dennoch sind in Luxemburg in komplexen Dossiers wie der Flüchtlingskrise auch starke Vereinfachungen an der Tagesordnung. 

Jean Asselborn: Auch hier kann ich nur sagen, dass wir vernünftig sein müssen. Wir können nur zusammen erfolgreich sein und dürfen nicht gegeneinander arbeiten.  

Tageblatt: Der Brexit ist alles außer vernünftig und dennoch eine Realität. Versteht die breite Öffentlichkeit, welch sperriger Weg vor uns liegt?

Jean Asselborn: Ich bin mit jenen Stimmen einverstanden, die sagen, dass wir uns jetzt ein Jahrzehnt lang mit den Folgen des Brexit beschäftigen werden. Das ist so und das sollten wir auch wissen. Die ganze Energie, die wir dabei verlieren, hätten wir in anderen Bereichen einsetzen müssen. 

Tageblatt: Das klingt nicht gerade optimistisch ...

Jean Asselborn: Wir müssen unsere gesamte Energie bündeln, um Europa zukunftsfähig zu machen. Wir sehen bereits jetzt, was passiert, wenn ein Staat wie Großbritannien sich zurückzieht - und wir sind noch längst nicht am Ende angelangt. Die negativen Konsequenzen werden erst kommen.   

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