"Das Schlimmste sind Politiker, die nichts sagen"

Interview: Luxemburger Wort (Christoph Bumb, Diego Velazquez)

Luxemburger Wort: Ihre Forderung nach einem Ausschluss Ungarns aus der EU in einem Interview mit der "Welt" hat für viele Schlagzeilen gesorgt. Emotional waren die Aussagen wohl verständlich, doch was hat es politisch konkret bewirkt?

Jean Asselborn: Ich stehe zu dem, was ich gesagt habe. Die ungarische Regierung bewegt sich schon seit mehreren Jahren in eine Richtung, bei der sie dies eigentlich selbst einsehen muss. Es macht für sie keinen Sinn, Teil von einer EU zu sein, die auf Gemeinschaft und Solidarität beruht. Wenn man sich von dieser Gemeinschaft entsolidarisiert, besonders in einer Frage wie der Migration, bei der es um Menschlichkeit geht, dann hat man zwei Möglichkeiten: Entweder kann man aufgrund der EU-Verträge nichts machen. Oder man kommt zu dem Schluss, den ich in dem Interview ausgeführt habe.

Luxemburger Wort: Nun denkt Ungarn aber nicht daran, freiwillig aus der EU zu gehen. Deshalb nochmal: Was hat ihre Forderung politisch bewirkt?

Jean Asselborn: Einige Beobachter sagen mir, dass ich nicht so falsch lag. Ungarns Premier Viktor Orban hat beim Referendum über die Flüchtlingsquoten nicht Millionen ausgegeben und etliche Flugblätter verteilt, damit die Wahlbeteiligung so niedrig ist. Durch die Debatte im Vorfeld haben sich viele Ungarn gefragt, ob sie ihrem Premier wirklich vertrauen. Das soll nicht vermessen klingen. Ich stelle nur fest, dass das Referendum nicht so ausgegangen ist, wie es sich Orban erhoffte. 60 Prozent haben nicht gewählt.

Luxemburger Wort: Verstehen wir Sie richtig, dass ihre Aussage also kalkuliert war, um das Votum des ungarischen Volkes zu beeinflussen?

Jean Asselborn: Nichts war kalkuliert. Ich habe aber gesehen, mit welchen fragwürdigen Methoden Propaganda für ein positives Votum gemacht wurde. Wenn Flüchtlinge mit Terroristen gleichgesetzt werden, ist das nicht mehr vereinbar mit unseren europäischen Werten. 

Luxemburger Wort: Es war ja nicht das erste Mal, dass Sie mit "Klartext" für Aufsehen sorgen. "Der Spiegel" nennt Sie den "Europameister der kantigen Aussagen". Welche außenpolitische Strategie steckt dahinter?

Jean Asselborn: Wir haben vielleicht das Glück, dass wir als kleines Land bei der Frage der Werte offener sprechen können als andere Länder. Auch Luxemburg hat in der Vergangenheit Fehler gemacht. Ich meine das Bankgeheimnis und alles, was damit zusammenhängt. Darauf bin ich nicht stolz. Wir haben jedoch eingesehen, dass Dinge falsch laufen und haben sie korrigiert. In der aktuellen Debatte geht es aber darum, dass ein Mitgliedstaat die Werte der EU verletzt. Wenn Europa dort scheitert, wo es um seine Werte und Menschlichkeit geht, dann ist das nicht mehr das Europa, das unsere Großeltern nach dem Krieg aufgebaut haben.

Luxemburger Wort: Die Frage war, welche außenpolitische Strategie dahinter steckt...

Jean Asselborn: Ich stehe morgens nicht auf, um eine Strategie festzulegen. Ich bin aber fähig, der Realität in die Augen zu schauen. Luxemburg hat vielleicht nicht die gleichen Interessen oder das Gewicht wie andere Staaten. Ich fühle aber die Verpflichtung, Dinge, die falsch laufen, auch anzusprechen. Nicht mit der Brechstange, sondern anständig. Ich habe ja niemandem den Krieg erklärt oder gesagt, dass ich jemanden umbringen will. Ich stehe zu meinen Aussagen. Solche Aussagen bleiben in den Köpfen der Leute. Natürlich weiß ich, dass man niemanden aus der EU werfen kann, darum ging es ja gar nicht. Es ging mir darum zu zeigen, dass es Grenzen des Erträglichen gibt. Ich weiß nicht, ob sie wissen, wie schlecht ich mich unter Kontrolle habe und wirklich nicht kalkuliert auftrete. Ich bin schlicht engagiert, um meinen außenpolitischen Kurs zu verteidigen.

Luxemburger Wort: Ihre Aussagen wurden von Ungarn aber durchaus als Angriff wahrgenommen. Inwiefern ist das für Luxemburgs Interessen kontraproduktiv? Macht das Luxemburg nicht selbst angreifbar?

Jean Asselborn: Man muss wissen, was man will. Wollen wir alle den Mund halten, auch wenn wir klar sehen, dass wir auf eine Mauer zusteuern? Wenn Europas Werte in Gefahr sind, sage ich das auch.

Luxemburger Wort: So reden kann man aber doch nur, wenn man selbst über alle Zweifel erhaben ist. Luxemburg ist ja auch nicht immer ein europäisches Musterbeispiel, Stichwort LuxLeaks...

Jean Asselborn: Nein, das habe ich ja auch schon gesagt. Es gibt aber einen wesentlichen Unterschied zwischen uns 
und Ungarn. Wir haben unsere Fehler eingesehen und unsere Politik gewandelt. Vom Bankgeheimnis redet niemand mehr. Und von den Steuerrulings kommen wir auch weg, wir müssen jedenfalls davon wegkommen. Bei LuxLeaks habe ich auch klar gesagt, dass diese Tricksereien aufhören müssen. Andere Staaten haben jedoch nichts eingesehen.

Luxemburger Wort: Ist es denn wirklich vorbei mit den Tricksereien?

Jean Asselborn: Ja. Ich bin hundertprozentig davon überzeugt, dass alles gemacht wurde, um einen anderen Weg einzuschlagen. Heute werden wir von der OECD gelobt, weil wir bei BEPS ("Base erosion and profit shifting", dem OECD-Programm für globale Steuerfairness, Anm. d. Red.) eine positive Rolle spielen.

Luxemburger Wort: Die OECD ist eine Sache. Auf EU-Ebene gehört Luxemburg aber weiter zu den Bremsern...

Jean Asselborn: Egal wer luxemburgischer Minister ist, hat die Pflicht, das "level playing field" zu bewahren. Ich glaube nicht, dass wir zu den Bremsern gehören. Wir sagen vielmehr: Lasst uns den Weg gemeinsam gehen. Ich weiß nicht, ob die EU weiter gehen soll als die OECD. Die OECD ist ja größer als die EU. 

Luxemburger Wort: Wie würde Jean Asselborn eigentlich reagieren, wenn ein EU-Staat fordern würde, Luxemburg wegen der Steuerpolitik aus der EU zu werfen?

Jean Asselborn: Das hatten wir ja schon. Ich habe ein Prinzip: Wenn ein Land einsieht, dass etwas schief läuft, dann hat es die Pflicht, etwas daran zu ändern. Das haben wir gemacht und das machen wir weiter.

Luxemburger Wort: Sie sagten selbst, dass nur ein kleines Land gewisse Dinge offen ansprechen kann. Was sagen Sie zu den Spekulationen, dass Ihre Aussagen mitunter mit anderen größeren Staaten abgesprochen sind? Dass Sie sozusagen vorgeschickt werden...

Jean Asselborn: Das sind falsche Spekulationen. Ich habe nie Aussagen mit anderen Ländern abgesprochen.

Luxemburger Wort: Ihre kantigen Aussagen und deren Niederschlag in der internationalen Presse machen aber gewissermaßen auch den Erfolg von Jean Asselborn aus, oder?

Jean Asselborn: Bin ich erfolgreich? (lacht)

Luxemburger Wort: Den Umfragen nach könnte es schlechter laufen...

Jean Asselborn: Mein Problem ist vielleicht, dass ich schon so lange dabei bin und es demnach viele Aussagen von mir gibt. Wenn ich nach Brüssel komme, dann laufe ich nie an der Presse vorbei. Ich respektiere Ihre Kollegen, die dort im Regen stehen. Mit der Zeit lernt man die Journalisten auch besser kennen. Das sind auch Menschen, wie Politiker auch. Die Beziehung darf aber nie zu eng sein. Dennoch habe ich unter Europas Journalisten Freunde gefunden. Wir haben ähnliche Ansichten und diskutieren darüber. Das heißt aber nicht, dass ich sie privilegiert behandele oder umgekehrt.

Luxemburger Wort: Ist das nicht genau auch Teil Ihres Erfolgsrezepts?

Jean Asselborn: Ich bin derjenige, der am längsten im Amt ist. Die meisten Journalisten kennen mich. Sie wissen, dass ich bei problematischen Entwicklungen immer sage, was ich für richtig halte. Ist das eine Gabe? Das weiß ich nicht. Journalisten verlangen aber, dass man in wenigen Sekunden erklären kann, was in der Welt so läuft. Die einen haben eine Gabe, um etwas auf den Punkt zu formulieren, andere stottern. Ich habe auch schon oft gestottert. Ich habe mittlerweile aber auch ein wenig Erfahrung im Geschäft. Ich würde für mich aber nicht beanspruchen, anderen Ministern sagen zu können: Wenn du das so und so machst, dann hast du Erfolg.

Luxemburger Wort: Sie haben aber sicherlich bemerkt, dass das ihre Art in Luxemburg gut ankommt. Sie sind nicht gerade medienscheu...

Jean Asselborn: Muss ein Politiker denn medienscheu sein? Wenn Politiker nicht mit euch reden, dann gefällt euch Journalisten das doch auch nicht. Mein Ansehen hat sich in dieser Amtsperiode entwickelt. Es war aber auch schon vorher da. Es ist ein Prozess. Heute ist meine Erfahrung aber mein Vorteil. Diese Erfahrung kann man nicht kaufen, die kommt mit der Zeit. Die ersten sechs, sieben Jahre war ich ein Nobody in Brüssel. Ich habe mich festgebissen.

Luxemburger Wort: Inwiefern hat sich Ihre Rolle nach dem Abgang von Jean-Claude Juncker als Premier gewandelt?

Jean Asselborn: Als ich 2004 Außenminister wurde, hat Premier Jean-Claude Juncker zu mir gesagt:"Die Stimme Luxemburgs im Ausland, das bin ich." Also, er. (schmunzelt) Damit meinte er, dass ich zumindest auf europäischer Ebene nichts sagen solle, was seinen Äußerungen widerspricht. Nun gut, ich hatte die Botschaft verstanden. Zudem hat man gesagt, Nicolas Schmit wäre da, weil ich es alleine nicht kann. Ich habe aber schon damals gemerkt, dass man sich mit ein wenig Erfahrung auch persönlich einbringen und etwas bewegen kann. Ich denke aber nicht, dass ich in meiner zweiten Amtszeit weniger in den Medien präsent war als heute.

Luxemburger Wort: Zum Erfolgsrezept gehört also, die eigene Erfahrung für die eigenen Interessen zu nutzen?

Jean Asselborn: Erfahrung ist das Eine. Du musst dich aber auch in die Materie hineinknien. Ich hatte die Chance, durch die Kampagne für unseren Sitz im UN-Sicherheitsrat sehr viel zu lernen. Ich habe die Welt der Diplomatie nicht in Brüssel kennengelernt. Durch diese Erfahrung und meine lange Amtszeit, habe ich vielleicht ein größeres Gepäck als andere Kollegen.

Luxemburger Wort: Es wird oft gesagt, dass Außenpolitik Interessenpolitik sei. Was sind denn die luxemburgischen Interessen?

Jean Asselborn: Zuerst gilt: Unsere Souveränität und unseres politisches Überleben hängen von Europa ab. Wir müssen bescheiden bleiben. Wir können aber dazu beitragen, die europäischen Entscheidungen in die richtige Richtung zu beeinflussen, besonders auf dem Gebiet der Menschlichkeit und der Solidarität. Daneben haben wir aber auch eigene Interessen, unsere Wirtschaft, unseren Finanzplatz. Jetzt kann man natürlich fragen, ob das eine immer mit dem anderen vereinbar ist. Ich bin aber überzeugt, dass man durch wirtschaftliche Beziehungen auch im Bereich der Werte etwas bewegen kann.

Luxemburger Wort: Wenn Jean-Claude Juncker sagte, er sei die Stimme Luxemburgs – Was sagt Xavier Bettel?

Jean Asselborn: Der heutige Premier ist ein junger Mann. Wenn man ohne internationale Erfahrung Staatsminister wird, ist das natürlich eine andere Situation. Das ist völlig normal. In der Zusammenarbeit gab es bisher aber nie größere Schwierigkeiten.

Luxemburger Wort: Man hat dennoch das Gefühl, dass Sie seit dem Regierungswechsel 2013 sowohl im Ausland als auch in Luxemburg an Gewicht gewonnen haben...

Jean Asselborn: Beim Regierungswechsel hatte ich nicht viel Zeit zum Überlegen. Die Frage war: Willst du dich behaupten oder nicht? Ich wollte vor allem Luxemburgs Kampagne im UN-Sicherheitsrat zu Ende führen. Der Posten des Vizepremiers war ohnehin nicht mein Ding. Der Titel war mir nicht wichtig. Die Leute mögen doch Typen wie Raymond Poulidor. Ich sage jetzt Poulidor, weil er immer beliebter war als Jacques Anquetil.

Luxemburger Wort: Poulidor hat aber nie gewonnen...

Jean Asselborn: Doch. Er fuhr zwar nie im gelben Trikot, hat aber sehr wohl viel gewonnen.

Luxemburger Wort: Zurück zur Frage: mehr Gewicht seit 2013, ja oder nein?

Jean Asselborn: Das müssen Sie mir sagen. Ich versuche meine Arbeit zu machen. Wenn ich aber durch die Straßen gehe oder Fahrrad fahre, sagt zwar keiner:"Bravo, de Jang!" Es sagt aber auch keiner:"Da kommt der Trottel!" Also, politisches Gewicht und Popularität sind so eine Sache. Wenn man selbst anfängt, darüber zu dozieren, dann wird es gefährlich.

Luxemburger Wort: Trotz allem: In den deutschen Medien, liest man fast täglich, was Jean Asselborn sagt oder denkt...

Jean Asselborn: Ich lade mich ja aber nicht selbst ein. Da müssen Sie schon die deutschen Medien selbst fragen, warum das so ist. Ich hab noch nie beim Deutschlandfunk angerufen, um mich selbst einzuladen. Ich werde eingeladen.

Luxemburger Wort: Angela Merkel sagte einmal über Sie:"Ich schätze den Außenminister Luxemburgs wirklich sehr, aber wir haben doch als Politiker eine Verantwortung, aus schwierigen Entwicklungen etwas Vernünftiges zu machen. Man ist nicht Politiker, um die Welt zu beschreiben und sie katastrophal zu finden. Das können Soziologen oder Journalisten machen."...

Jean Asselborn: Ich habe viel Respekt vor Angela Merkel. In bestimmten Situation würde ich aber anders reagieren als sie. Wenn ich immer meinen Beratern und Diplomaten zuhören würde, dann würde ich nie irgendetwas sagen. Dann wäre Luxemburg nie aufgefallen. Die Diplomaten meinen es ja gut und wollen einen schützen. Sie brauchen eine glatte Sprache. Das ist aber nicht mein Stil. Ich bin Politiker. Das Schlimmste sind doch Politiker, die nichts sagen. Es stört mich selbst, wenn ich bei Themen, für die ich mich weniger engagiere, die Notizen meiner Beamten ablesen muss. 

Luxemburger Wort: Merkel meinte damit ja aber, dass Sie nur die Realität beschreiben und nicht viel tun, um diese dann zu ändern...

Jean Asselborn: Um etwas zu ändern, muss man es erst einmal beschreiben können.

Luxemburger Wort: Anders gefragt: Luxemburg beschreibt immer gerne das Weltgeschehen, doch was macht Luxemburg, um etwas die Lage zu verbessern?

Jean Asselborn: Luxemburg weist darauf hin, dass die gegenwärtigen Entwicklungen nicht in die richtige Richtung gehen. Wir sind Luxemburg. Man wird doch noch sagen können, dass eine Gefahr besteht und dann versuchen, auf niedrigen Entscheidungsebenen Sachen zu regeln, statt alles auf EU-Gipfeln zu verschieben. Das macht Luxemburg. Ich plädiere dafür. 2006 haben wir das hinbekommen. Wir haben Entscheidungen zur Zypernkrise getroffen, ohne einen EU-Gipfel dafür zu brauchen. Das macht Luxemburg. Ich setze mich dafür ein, dass Minister in der EU etwas regeln können und nicht immer die Staats- und Regierungschefs ran müssen. Ich kann aber leider nicht die Verträge ändern.

Luxemburger Wort: Politiker, Soziologe, Journalist ... Was macht Jean Asselborn eigentlich nach dem Oktober 2018?

Jean Asselborn: Das hängt allein vom Wähler ab. Ich hoffe mal, dass wir es bis dahin schaffen und dann gehe ich in die Wahlen. Wer weiß, was dann passiert? Ich weiß aber, was ich am Liebsten hätte...

Luxemburger Wort: Und das wäre?

Jean Asselborn: Ich habe fünf Fahrräder. Und ich habe zwei Töchter. Eine davon hat drei Kinder. Das wäre ein Aspekt, den ich nicht vernachlässigen will. Jetzt sind es bis dahin aber noch zwei Jahre. Ich weiß es nicht. Ich habe in den zwölf vergangenen Jahren viel gesehen und viel getan, was mich erfüllt. Ich habe meiner Partei viel zu verdanken, bin aber weder amtsmüde, noch habe ich alles satt. Ich fühle mich auch noch fit, um weiter das zu machen, was ich jetzt mache. Aber nur wenn ich Fahrrad fahren kann. Sobald ich das nicht mehr kann, dann höre ich auf.

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