Interview von Jean Asselborn mit dem "Deutschlandfunk"

"Es war ein plumper Aufschrei"

Interview: Deutschlandfunk (Christine Heuer)

Deutschlandfunk: Ihr Vorschlag, Ungarn aus der EU zu schmeißen, wird von vielen auch sehr heftig kritisiert, am heftigsten wohl von Ungarns Außenminister. Der hat Sie gestern eine "unernste Figur" genannt, belehrend, arrogant, frustriert. Wie fühlt sich das an, Herr Asselborn?

Jean Asselborn: Das bringt uns in der Sache nicht viel voran. Ich verstehe, dass die Ungaren vielleicht so reagieren, denn das, was ich gemacht habe, ist etwas plump. Es war ein plumper Aufschrei. Aber ich stehe zu dem, was ich gesagt habe. Und wenn Sie mir die Chance geben, kann ich es Ihnen auch ein wenig erklären.

Deutschlandfunk: Ja, die Chance sollen Sie auf jeden Fall haben. Wir sind ganz gespannt. Aber noch zur Kritik. Sie werden ja auch von Ihren Freunden kritisiert, von überzeugten Europäern, mit denen Sie sich sonst gut verstehen. Fühlen Sie sich da ein bisschen allein gelassen oder vielleicht auch missverstanden?

Jean Asselborn: Ich kann nicht verlangen, dass ich Beifall bekomme. Ich habe das jetzt schon gesagt: Es ist etwas unkonventionell, was ich gemacht habe, für Verschiedene vielleicht schockierend. Frank-Walter Steinmeier, den Sie auch indirekt ansprechen, hat wohl, als er das gelesen hat, an 1989 gedacht und die große Rolle Ungarns. Meine Absicht ist es selbstverständlich nie gewesen, ein Volk oder ein Land zu bestrafen. Aber vielleicht doch einzusehen, dass es eine Regierungspolitik geben kann in der Europäischen Union, die de facto ein Land außerhalb der Werte vor allem der Europäischen Union stellt und es dann auch keinen Sinn mehr macht, Mitglied unserer Union zu sein.

Deutschlandfunk: Sie haben gerade selber gesagt, Sie hätten vielleicht etwas plump formuliert, was Sie da kritisieren. Ist das nötig? Wird man sonst nicht mehr gehört?

Jean Asselborn: Nein. Außenpolitik hat auch etwas zu tun, glaube ich, manchmal mit dem Bauch. Ja, es staut sich etwas auf, und ich werde vielleicht Ihnen sagen, was sich aus meiner Sicht in Ungarn zuträgt, und das finde ich extrem schlimm.

Deutschlandfunk: Dann machen Sie mal! Ich höre zu und unsere Hörer auch.

Jean Asselborn: Budapest ist zur Zeit eigentlich zugekleistert mit Plakaten, die den Menschen in Ungarn sagen sollen - das ist im Kontext dieses Referendums, was am 2. Oktober stattfindet -, Flüchtlinge sind Terroristen. Da gibt es Plakate in Ungarn, die sagen: "Hätten Sie gewusst, dass es Einwanderer waren, die die Anschläge von Paris begangen haben?" - Es ist eine propagandistische Hysterie ausgebrochen und der Chef der Regierung, Herr Orbán, redet - das muss man sich im Munde zergehen lassen - von einer Brüsseler Reichsdemokratie und sagt, dass die nur im Kopf hat, das christliche Abendland zu zerstören. Ein Fidesz-Abgeordneter - das ist die Partei von Herrn Orbán, das ist nicht irgendeine NPD-Oppositionspartei -, der sagt, man solle zur Abschreckung muslimischer Flüchtlinge Schweineköpfe an die Grenzzäune von Serbien und Kroatien hängen, um abzuschrecken. Das, Madame Heuer, das ist genau das, was aus meiner Sicht nicht nur gegen einen EU-Vertrag verstößt, sondern gegen die Wertekultur, auf die Europa 1945 aufgebaut wurde, und da kann man entweder das schlucken, oder dagegen vielleicht aufschreien, ja.

Deutschlandfunk: Sie haben es nicht geschluckt, Sie haben Ihrem Herzen Luft gemacht. Aber das alles fokussiert sich ja auf eine Frage: Zerstören die Ungarn und andere die Europäische Union?

Jean Asselborn: Wissen Sie, Madame Heuer, ich bin vielleicht altmodisch, aber wir sind ja bei der Europäischen Union bei einer Wertegemeinschaft, bei einem Friedensprojekt. Rechtsstaatlichkeit, die fundamentale Menschlichkeit eigentlich ist doch die Essenz, die an der Wiege stand der Europäischen Union, und ist das, was uns, was die Europäische Union auch zusammenhält. Und über diese Werte muss natürlich politisch jeden Tag gestritten werden. Das sind keine Fixsterne, auch die Applikation dieser Werte nicht. Aber sie mit den Füßen treten, so manifest mit den Füßen treten, und dann den Mantel der Gleichgültigkeit darüber anzuziehen, dann wird die Idee dieses großartigen Projekts Europäische Union, glaube ich, ersticken. Und das ist das, was mich eigentlich zu diesem Aufschrei veranlasst hat, dass man jetzt nicht dem Volk Ungarns das ankreidet, sondern der Regierung in Ungarn, dass sie vielleicht einmal durchatmet und trotzdem überlegt, was die Europäische Union ist, 25 Jahre nach der Befreiung oder ein wenig mehr als ein Vierteljahrhundert, wo dann solche Aussagen, solche Positionen enden können.

Deutschlandfunk: Dann stelle ich die Frage noch mal anders, Herr Asselborn. Ich hatte gefragt, ob Ungarn die EU zerstört. Zerstört Ungarn die EU so wie sie war, so wie wir sie kennen, so wie die Gründungsväter sie gedacht haben?

Jean Asselborn: Ich habe Ihnen versucht zu erklären, ob Ungarn oder nicht Ungarn jetzt, was allgemein diese Werte für uns darstellen. Ich sage noch einmal, das wissen Sie, wenn Sie fragen nach Ungarn, dass Zuwiderhandlungen von einem EU-Mitgliedsstaat in Sachen Errungenschaften, um die zu sanktionieren, bedarf es ja, wie Sie wissen, der Einstimmigkeit im Rat. Und Sie wissen auch und wir wissen alle, dass die nicht da ist. Wenn man also wie ich konfrontiert war mit der Frage, wenn man über Bratislava redet, wenn man über die Flüchtlingsfrage redet, und die Frage Ihres Journalistenkollegen war: Was geschieht, wenn in Ungarn 90 Prozent der Menschen Ja sagen zu diesem Referendum, die Ungarn selbstverständlich noch mehr dann eigentlich sich verneinen, die Lasten mitzutragen, was geschieht dann in Deutschland, was geschieht in anderen Ländern, was geschieht in der Europäischen Union, wie geht es dann weiter? Dann hat man nur zwei Möglichkeiten. Entweder - die Franzosen sagen "langue de bois", oder man sagt, Achtung - und man sagt das ein wenig provokativ dann. Der Urgedanke der Europäischen Union, den wir ja im Begriff "ever closer union" am besten sehen, zusammenzustehen und gemeinsam die großen menschlichen Werte hochzuhalten auch für ein Land wie Ungarn, das hat uns doch die Kraft gegeben, Diktaturen in Demokratien zu verwandeln. Und die deutsche Wiedervereinigung, die europäische Wiedervereinigung, ob das im Rat war, in der Kommission, im Europaparlament, ohne den Sinn für die Werte hätte das ja nie funktioniert.

Deutschlandfunk: Sie haben in dem Interview mit der "Welt" auch gesagt, Herr Asselborn: Wer die Pressefreiheit und die Unabhängigkeit der Justiz verletzt, sollte ausgeschlossen werden. Wir haben jetzt verstanden, Sie haben sich ausdrücklich dezidiert geäußert, um Ihre Kritik hörbar zu machen. Wenn Sie aber so was sagen, dann meinen Sie nicht nur die Ungarn, dann meinen Sie doch auch die Polen, oder?

Jean Asselborn: Ich bin kein Zensor in der Europäischen Union. Ich glaube, jeder hat verstanden, dass auch in anderen Ländern es Entwicklungen gibt, die, sagen wir mal, nicht euphorisch sind, die eher bedrückend sind. Und auch Bratislava sollte aus meiner Sicht nicht, sagen wir mal, ein Treffen sein, wo man das Rad neu erfindet, sondern wo man sich vielleicht besinnt auch nach dem Brexit. Bratislava wurde ja eigentlich nach dem Brexit entschieden, dieses Treffen zu organisieren. Und das soll meines Erachtens nicht ein Endstand sein, sondern das soll ein Anfang sein einer Diskussion, wo man sich wieder über das elementarste Einmaleins der Europäischen Union unterhält, über Begriffe wie Solidarität und Verantwortung. Und dass man natürlich auch da weiß, dass die großen Themen die Menschen interessieren, wie mehr Sicherheit in Europa, Migration, Klimawandel, und vor allem auch die sozialen Fragen, nicht nur die Wirtschaftsfragen und die Haushaltsfragen, sondern die sozialen Fragen, dass es ein gewaltiger Irrtum ist: Wir können Nationalisierungen, also wieder Kompetenzen zurückzuführen auf die Mitgliedsländer, das wäre ein großer Irrtum, dass man die Globalisierung dann mit nationalen Kompetenzen bewältigen will. Das, glaube ich, muss im Vordergrund stehen in Bratislava. Ich weiß, dass Präsident Tusk und ganz bestimmt auch Kommissionspräsident Juncker daran arbeiten. Wenn das einleuchten würde, das Einmaleins und diese Globalisierung mit Europa bewältigen, nicht umgedreht, dann wäre das ein Fortschritt.

Deutschlandfunk: Bratislava - das ist das Treffen, über das Sie sprechen, der EU ohne Großbritannien - findet übermorgen statt. Sie sagen, es soll kein Endpunkt sein. Aber könnte es sein, Herr Asselborn, dass die EU einfach vielleicht nicht am Ende ist, aber doch ein mögliches Ende vor Augen hat. Dass, wenn die Populisten auf dem Vormarsch sind, die überzeugten Europäer vielleicht einfach nicht mehr in der Mehrheit sind, dass das Europa, das Sie verteidigen, nicht mehr von der Mehrheit gewollt wird?

Jean Asselborn: Das Europa, was ich verteidige, weil sonst bin ich von einem anderen Fixstern, das ist ja das Europa, was wir von unseren Großvätern und Großmüttern weitergeben müssen an unsere Kinder und Enkelkinder, dass Europa auch im 21. Jahrhundert Bestand hat. Das ist das erste. Das zweite ist: Wissen Sie, in Europa - ich bin jetzt über zwölf Jahre dabei - ist oft gesagt worden, der Konsens wird sich irgendwie einstellen und der Konsens ist eigentlich der Motor des Fortschritts in Europa. Jetzt sind wir aber konfrontiert, was man hört, und da sind wir über den Werten, sondern da sind wir schon beim Begriff, was Europa für die Länder bedeuten soll, dass man eigentlich nicht mehr zusammenstehen soll so fest, sondern dass man Aufgaben und Kompetenzen besser rückführt in die nationalen Mitgliedsstaaten. Um da den Konsens herzubringen zwischen denen - und da gibt es Unterschiede -, denen, die sagen, wir brauchen nicht unbedingt jetzt mehr Europa, mehr Integration, aber man versteht sich, wir brauchen ein besser funktionierendes Europa, um die großen Probleme der Zeit zu lösen, und andere, die dann sagen, nein, das ist der falsche Weg, wir brauchen umgedreht mehr nationale Kompetenzen, hier gibt es - und das ist die größte Gefahr auch in Bratislava, dass hier sich ein Strich durch die Mitgliedsländer zieht -, hier gibt es keinen Konsens, meiner Meinung nach. Und dann den faulen Kompromiss zu suchen, glaube ich, wäre es besser, dass man das dann festhält, und man muss arbeiten, dass wieder alle auf dieselbe Schiene kommen.

Deutschlandfunk: Gut, Sie sprechen ein offenes Wort. - Herr Asselborn, jetzt haben wir ganz viel über Ihre Kritik vornehmlich an den Ungarn gesprochen. Ich möchte zum Schluss ganz kurz mit Ihnen etwas Selbstkritik üben. Kann es sein, dass so jemand wie Jean-Claude Juncker oder die Luxemburger Regierung, die zum Beispiel Milliarden Steuervorteile für Großkonzerne geschaffen haben, dass das etwas ist, was der EU mindestens genauso schadet wie die Flüchtlingspolitik von Viktor Orbán?

Jean Asselborn: Sie reden etwas an, glaube ich, wo wir ja als luxemburgische Regierung - und da will ich nicht eine Person in den Vordergrund setzen -, wir haben uns entwickelt als Bankplatz vor allem Ende der 60er-Jahre, und da sind Dinge geschehen, die wir umgedreht haben.

Deutschlandfunk: Herr Asselborn, nicht noch mal die ganze Geschichte erzählen, weil uns die Zeit wegläuft. Ich wollte wirklich nur wissen: Üben Sie da auch Selbstkritik?

Jean Asselborn: Wir haben uns fundamental geändert in Luxemburg und wir werden uns noch fundamentaler ändern in Luxemburg, und das tut gut, dass wir uns ändern. Das tut mir gut, aber das tut den meisten Luxemburgern sehr gut, und wir sind auf einem richtigen Weg der Zusammenarbeit mit der OECD in Paris. Wir sind auch aktiv in Europa, was zum Beispiel die Holdings angeht. Wir sind fähig, uns selbstverständlich anzupassen an das, was Sache ist, nämlich Transparenz. Das Bankgeheimnis ist nicht mehr der Begriff, von dem Luxemburg lebt.

Deutschlandfunk: Okay. - Herr Asselborn, vielen Dank für das Gespräch. Jetzt kommen gleich die Nachrichten. - Das war der luxemburgische Außenminister - und Migrationsminister ist er übrigens auch -, der Sozialdemokrat Jean Asselborn. Herzlichen Dank und einen schönen Tag für Sie.


Dernière mise à jour