Interview von Jean Asselborn mit der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung

"Das britische Referendum ist ein Anlass zur Selbstkritik"

Interview: Hannoversche Allgemeine Zeitung (Marina Kormbaki)

Hannoversche Allgemeine Zeitung: Herr Asselborn, warum schreckt die EU so viele Bürger ab?

Jean Asselborn: Das britische Referendum ist ein Anlass zur Selbstkritik. Die Selbstdarstellung Europas schreckt ab, das Theater in Brüssel. Wir haben in der Flüchtlingsfrage Lösungen angeboten und waren doch unfähig, diese gemeinsam umzusetzen. Aber: Es ist ganz und gar wirklichkeitsfremd und unehrlich, dass ausgerechnet die Briten in der Migrationsfrage alle Schuld auf die EU geschoben haben.

Hannoversche Allgemeine Zeitung: Was werfen Sie den Briten vor?

Jean Asselborn: Die Brexit-Kampagne hat verschwiegen: Großbritannien war das EU-Land, das die Aufnahme der Osteuropäer in die EU am entschiedensten betrieben hat. Daran war nichts falsch. Aber im Gegensatz zu Deutschland und anderen EU-Ländern haben die Briten ohne jede Hürde oder Übergangsfrist ihren Arbeitsmarkt für die Bürger dieser Länder geöffnet. Davon haben sie profitiert, denn ihre Wirtschaft braucht Arbeitskräfte - während die Ost-Länder und die baltischen Länder ihre besten Leute verlieren. Wenn man da die Einwanderer aus Indien und Pakistan hinzunimmt, erscheinen die Aussagen älterer Briten, die ihre Städte nicht wiedererkennen, nachvollziehbar. Aber diese Sorgen haben nichts mit der europäischen Flüchtlingskrise zu tun - es kamen ja nur sehr wenige Flüchtlinge nach Großbritannien. Anstatt den Leuten die Angst mit Argumenten zu nehmen, gab die britische Regierung ihnen auf unverantwortliche Weise ein Referendum.

Hannoversche Allgemeine Zeitung: Was ist falsch daran, die Bürger nach ihrer Meinung zu fragen?

Jean Asselborn: Innenpolitisch kann ein Referendum von großem Nutzen sein. Etwa wenn es um die Frage geht, ob ein Bahnhof ober- oder unterirdisch gebaut wird. Bei nationalen oder europapolitischen Themen aber können Referenden gefährliche, unkontrollierbare Folgen haben. Fragen der internationalen Politik lassen sich nicht mit einem simplen Ja oder Nein beantworten. Unsere parlamentarische Demokratie ist im Zusammenspiel mit einer breiten öffentlichen Debatte imstande, zu besseren, fundierteren Entschlüssen zu kommen.

Hannoversche Allgemeine Zeitung: Viele Briten wünschen sich ein zweites Referendum. Sollten sie eine zweite Chance erhalten?

Jean Asselborn: Es hat keinen Formfehler gegeben bei der Abstimmung, die Kampagne ist gelaufen.

Hannoversche Allgemeine Zeitung: Welche Bedeutung hätte der Brexit für Deutschlands Rolle in der EU?

Jean Asselborn: Deutschland ist die größte Wirtschaftsmacht in der EU. Als solche muss die Bundesrepublik jetzt sehr genau in die EU hineinhorchen. Auf lange Sicht wird die soziale Frage entscheidend sein für das Überleben Europas. Mehr als vier Millionen junge Menschen sind arbeitslos - eine verlorene Generation. Viele Menschen fühlen sich ausgeschlossen. Deutschland muss verstehen: Es genügt nicht, sich für den Stabilitätspakt einzusetzen. Es genügt nicht, sich für wirtschaftliches Wachstum einzusetzen. Man muss den Mehrwert des Wachstums sozial gerecht verteilen. Und da hapert es. Deutschland muss sich für die Überwindung von Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit in Europa einsetzen. Nicht unbedingt nur aus philanthropischen Motiven, sondern auch, weil sich die Populisten von der Hoffnungslosigkeit der Menschen nähren.

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