Interview de Jean Asselborn avec l'Aachener Zeitung

"Wenn man auf den Tisch haut, dann verpufft die Wirkung oft sehr schnell"

Interview: Aachener Zeitung

Aachener Zeitung: Sie sind seit zwölf Jahren Außenminister und damit auch gewissen diplomatischen Zwängen unterworfen. Würden Sie sich manchmal wünschen, mit der Faust so richtig auf den Tisch schlagen zu können?

Jean Asselborn: Wenn man auf den Tisch haut, dann verpufft die Wirkung oft sehr schnell. Und wenn man in der Außenpolitik zu offen Kritik übt, birgt das Gefahren. Wer den israelischen Regierungschef kritisiert, gilt zum Beispiel schnell als Antisemit. Die Sensibilitäten im Falle Polens kenne ich durchaus. Ich weiß: Mache ich klare Aussagen, dann kann sich auch das betroffene Volk beleidigt fühlen. Es gibt Themen, bei denen man sich eben auf die Zunge beißen muss. Aber angesichts der aktuellen Tendenzen dürfen bestimmte Probleme nicht verschwiegen werden. Denn stirbt Schengen, dann hat das Konsequenzen für uns alle. Werden unsere Werte gleichgültig, dann ist das eine andere Union, die nur noch nach wirtschaftlichen Regeln funktioniert.

Aachener Zeitung:Wo kommt denn die aktuelle Unzufriedenheit mit Europa her?

Jean Asselborn: Marine Le Pen macht in Frankreich zwei klare Aussagen: "Ausländer raus! Dann ist das Problem der Arbeitslosigkeit gelöst." Und: "Raus aus dem Euro! Dann sind alle unsere wirtschaftlichen Probleme gelöst."Das zieht bei 25 bis 30 Prozent der Franzosen. Europa wird nicht mehr richtig verstanden. Man glaubt, Europa mache alles nur noch schwieriger. Wir haben verlorene Generationen in Italien, in Spanien, Portugal. Wir haben nämlich den wirtschaftlichen Rang viel höher angesetzt als den sozialen. Wir haben zwar einen Euro, aber wir sind keine politische Union. Wir haben viel gemacht, um die Währung zu stabilisieren. Aber es ist weiterhin ein immenser Spagat. Die soziale Frage wurde nur zweitrangig behandelt. Gegen den Raubbau -Kapitalismus haben wir kein Mittel gefunden. Wir haben auf Wettbewerbsfähigkeit gesetzt und setzen noch immer darauf. Aber die soziale Dimension haben wir übersehen. Und in Deutschland? Die Art und Weise, mit der die AfD hier Stimmung macht, gefällt uns Luxemburgern nicht. Das kann keinem Nichtdeutschen gefallen. Ich bekomme zum Beispiel zunehmend Hassbotschaften per E-Mail aus Deutschland.

Aachener Zeitung: Sie haben anfangs gesagt, Europa habe seine Werte längst verwässert. Ist das nicht eine Umschreibung für Dekadenz? Ist Europa dekadent?

Jean Asselborn: Soweit würde ich nicht gehen. Wir haben verschiedene Tendenzen, die keinem gefallen können - wie eben in Polen.

Aachener Zeitung: Aber müssen sich nicht auch die europäischen Musterschüler kritische Fragen stellen lassen? Was ist da falsch gelaufen? Zum Beispiel bei der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich. Haben wir da nicht den Kompass verloren?

Jean Asselborn: In Teilen bestimmt. Mancher predigt da Wasser und genehmigt sich Wein. Da geht es letztlich um die Glaubwürdigkeit des Projekts Europa. Vor zehn Jahren gab es so etwas noch nicht. Andererseits gibt es in der EU starke Köpfe, die sich dagegen wehren. Es gibt auch Mittel, dagegen vorzugehen. Ich glaube, ich war da schon sehr eindeutig: Im Zweifelsfall müssen die Verträge durch die Kommission eben strikt angewendet werden. Man kann auch nicht alles auf die soziale Frage schieben. Nehmen Sie doch Polen: Wirtschaftlich ist es stetig bergauf gegangen. Trotzdem strebt die Regierung dort eine Gesellschaftsform an, die mit fundamentalen europäischen Werten nicht vereinbar ist. Würde Polen heute einen Antrag auf EU -Mitgliedschaft stellen, dann müsste man ihn ganz klar ablehnen.

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