Interview de Jean Asselborn avec le Tageblatt

"Wir brauchen(...)eine europäische Asylprozedur"

Interview: Tageblatt (Dhiraj Sabharwal)

Tageblatt: Wurden Sie während der Présidence von der Flüchtlingskrise überwältigt?

Jean Asselborn: Ich hatte es in der "Chamber" gesagt: Die Migrationsfrage wird unsere größte Herausforderung sein. Ich hatte allerdings nicht das Ausmaß, mit dem wir konfrontiert waren, vorausgesehen.

Tageblatt: Wie sehr besorgt Sie der Rechtsruck in verschiedenen Staaten?

Jean Asselborn: Es ist für mich klar, dass der aktuelle Rechtsruck in Europa gefährlich ist. Er verzerrte Themen wie die Migrationsdiskussion und Sicherheitsfragen. Auch die Terrorismusfrage wurde von den Demagogen des Front national in Frankreich zu dessen eigenen Zwecken missbraucht. Es ist einfach, zu behaupten, der Staat funktioniere nicht, alles muss sich wieder um das Nationale drehen. Sie kritisieren auch die polnische Regierung für ihre nationale Haltung. Ja. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Hätten wir die aktuelle polnische Regierung im Oktober, als wir über die Verteilung der Flüchtlinge diskutierten, am Ruder gehabt, hätten wir keine Lösung gefunden. Dabei mussten wir zeigen, dass Europa in der Lage ist, sich zu einigen. Wir mussten zeigen, dass die EU Flüchtlinge gerecht verteilen kann. Mit der amtierenden polnischen Regierung hätten wir das nicht einmal mit einer qualifizierten Mehrheit erreicht. Das schmerzt: Es hat ein Einbruch der Solidarität mit Menschen, die auf der Flucht und schutzbedürftig sind, stattgefunden.

Tageblatt: Arbeitsminister Nicolas Schmit hat Ihnen die Arbeit im Europaparlament während der Präsidentschaft abgenommen. Wie verlief die Zusammenarbeit?

Jean Asselborn: Es war physisch wegen meiner zahlreichen Verpflichtungen nicht möglich, überall präsent zu sein. Deshalb war die Lösung mit Arbeitsminister Nicolas Schmit ideal. Ich bin froh, dass er diese Aufgabe ganz und nicht nur gelegentlich angenommen hat. Wir hatten uns vor der Présidence abgesprochen. Nicolas Schmit ist aufgrund seiner Erfahrung ein gestandener Europapolitiker. Er hat hervorragende Arbeit geleistet.

Tageblatt: Wie hat das alte Tandem Asselborn-Juncker funktioniert?

Jean Asselborn: Ich habe als Ratsvorsitzender exzellente Beziehungen gepflegt zu Donald Tusk, Präsident des Europäischen Rates, zu EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und zu Europaparlamentspräsident Martin Schulz. Es war eine konstruktive und pragmatische Zusammenarbeit.

Tageblatt: Ihre Beziehung zu Juncker muss dennoch anders sein.

Jean Asselborn: Ich konnte mich natürlich mit EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, den ich so lange kenne, anders unterhalten. Ich kenne ihn seit Anfang der 1980er Jahre. Wir haben natürlich auch über den privaten Kanal miteinander kommuniziert und uns gegenseitig bei Vorhaben unterstützt. Sie haben in einem Tageblatt-Interview beschrieben, dass Juncker Ihnen vor langer Zeit sagte, es gebe nur einen bekannten Luxemburger im Ausland: Jean-Claude Juncker. Mittlerweile findet Ihre Stimme genauso viel Gehör. Es ist klar, dass ich alleine wegen meiner Funktion eine andere Wortwahl als der EU-Kommissionspräsident treffen kann. Ich kann zurzeit Folgendes betonen: Ich habe vorher und während der Présidence - was die Sache und Europa betrifft - eine gute Beziehung zu Jean-Claude Juncker. Ich hatte auch eine gute Beziehung zu seinem Amtsvorgänger José Manuel Barroso. Allerdings ist meine Beziehung zu Juncker etwas privater und direkter. Wir versuchen beide, Europa voranzutreiben.

Tageblatt: Juncker hat einen konstruktiven Plan zur Lösung der Flüchtlingskrise vorgelegt. Die Begeisterung ließ in vielen Staaten Europas zu wünschen übrig. Ist die Kommission gescheitert?

Jean Asselborn: Ich bin da nicht so pessimistisch. Die EU hat im Oktober die nötigen Schritte für die Umverteilung der Flüchtlinge unternommen. Allerdings kann das natürlich nur funktionieren, wenn Asylbewerber dies auch in Ländern wie Griechenland tun. Wenn sie ankommen und nicht offiziell Schutz beantragen, können wir sie auch nicht umverteilen.

Tageblatt: Welche Hindernisse sehen Sie?

Jean Asselborn: Es war bislang nicht möglich, dass Menschen, die von den griechischen Inseln auf dem Festland ankamen, dort in Würde während ein, zwei Wochen in Aufnahmeeinrichtungen bleiben konnten. Es gab dort niemand, der den Flüchtlingen erklärt hat, was die Umverteilung eigentlich ist. Es gab Fälle, in denen die Menschen nicht ins Flugzeug steigen wollten, weil sie dachten, man schicke sie zurück nach Syrien.

Tageblatt: Kann Griechenland diese Situation überhaupt bewältigen?

Jean Asselborn: Griechenland hat momentan nicht die logistischen Mittel und auch nicht die Durchschlagskraft des Staats. Man muss verstehen, was Athen alles mitgemacht hat. Wir müssen den Griechen helfen. Wir dürfen die Umsiedlung der Flüchtlinge nicht verwerfen. In Zukunft könnte sogar ein permanenter Umverteilungsmechanismus kommen und funktionieren. Es darf niemand glauben, dass die Flüchtlingswelle jetzt plötzlich im Frühling endet. Dann beginnt sie wieder von vorne. Sie wird länger als ein Jahr andauern.

Tageblatt: Sehen Sie keinen Lichtblick für den Krieg in Syrien?

Jean Asselborn: Die jüngste Einigung innerhalb des UN-Sicherheitsrats ist ein Lichtblick. Sie könnte den Migrationsdruck senken. Die Menschen flüchten nicht aus Syrien, um bei uns leben zu wollen. Sie flüchten, weil sie in Lebensgefahr sind. Sie wollen ihre Leben retten.

Tageblatt: Kommen wir auf die Ausgangsfrage zurück: Ist der Umverteilungsplan gescheitert?

Jean Asselborn: Man muss klar sagen, dass er bislang nicht funktioniert hat. Ich war der Überzeugung, dass der Umverteilungsplan bis Ende 2015 funktionieren könnte. Das war nicht der Fall. Das klappt ganz einfach nicht, weil in Griechenland und in Italien die nötigen Infrastrukturen fehlen. Aber auch Dublin und die europäische Asylprozedur funktionieren nicht mehr. Wir haben gesagt: ;,Dublin ist tot". Wir haben aber nicht gesagt, was danach kommen soll.

Tageblatt: Was halten Sie von der Idee des "resettlement", sprich Flüchtlinge in Herkunftsländern abzuholen?

Jean Asselborn: Ich denke, dass die Idee des "resettlement" produktiver als die Umverteilung sein kann. Wir müssen ohnehin in Europa die Vorschläge der EU-Kommission, die sie am 15. Dezember gemacht hat, umsetzen. Wir müssen der Grenzschutzagentur Frontex ein stärkeres Mandat geben.

Tageblatt: Was verstehen Sie unter einem stärkeren Frontex-Mandat?

Jean Asselborn: Wir müssen einfach wissen, wer nach Europa kommt. Nur so verstehen wir und vor allem Länder wie Italien, wer wirklich nach Europa kommt. Frontex braucht auch ein Mandat, um Rückführungen zu organisieren. Das Schwierigste bei der gesamten Migrationswelle ist die Tatsache, dass wir uns nur auf jene Menschen konzentrieren können, die unter die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 fallen. Wir schaffen die anderen Fälle nicht. Das ist bitter, aber leider die Realität.

Tageblatt: Was muss sich denn bei den Rückführungen ändern?

Jean Asselborn: In Griechenland funktioniert das gesamte Umverteilungssystem nicht, weil die Angst besteht, nicht zu wissen, was man mit jenen Menschen macht, die nicht unter die Flüchtlingskonvention von 1951 fallen. Wir brauchen zudem eine europäische Asylprozedur. Die Gerichte müssten die gleichen Kriterien anwenden, um die Frage zu klären, wer Flüchtling ist. Aber auch um die Rechte und Pflichten der Flüchtlinge zu verdeutlichen. Und es muss klar sein, wie lange die Prozedur dauert. Es gibt in diesem Bereich große Unterschiede in der EU: Wir haben zwar den Schengen-Raum, aber die Kriterien sind sehr unterschiedlich.

Tageblatt: Wie verlaufen eigentlich die "Brexit"-Verhandlungen?

Jean Asselborn: Man muss die Verhandlungen in aller Ruhe verfolgen. Es gibt unterschiedliche Punkte, über die diskutiert wird. Da wäre zum Beispiel die "ever closer union". Wenn wir daran rütteln, nehmen wir etwas weg, das bereits in den Römer Verträgen steht. Das sollte man nicht machen. Das gäbe ein schlechtes Bild von der EU ab.

Tageblatt: Wie sehen Sie die Haltung Großbritanniens mit Blick auf den Euroraum?

Jean Asselborn: Die Briten wollen nicht im Euro sein, aber gleichzeitig alles wissen, was sich in der Eurozone tut und praktisch ein Vetorecht haben bei allem, was entschieden wird. Wer in der Eurozone mitreden will, muss auch Verantwortung übernehmen und Mitglied werden. Ich bin einverstanden, dass die Briten sagen, es gebe unterschiedliche Währungen in der EU und verschiedene Länder hätten durch ihre eigene Währung eine bessere Lage. Allerdings bin ich nicht mit den Methoden einverstanden, die angewandt werden: Das Ziel muss bleiben, dass der Euro die Währung der Europäer bleibt. Sonst sind wir wieder auf einer anderen Schiene. Und wir dürfen nicht zulassen, dass die Forderungen der Briten zu Sozialdumping innerhalb der EU führen. Europa muss seinen sozialen Kern wahren.

Tageblatt: Wie groß war die persönliche Belastung für Sie?

Jean Asselborn: Also ich hatte jetzt bis zum 31. Dezember keinen freien Tag. Ich war höchstens 30 Prozent meiner Zeit in Luxemburg. Das Reisen an sich ist nicht am anstrengendsten. Man muss jedoch genau wissen, was man sagt, wenn man sein Ankunftsziel erreicht hat. Es bedarf demnach einer minutiösen Vorbereitung. Und man muss alle Informationen, die man erhält, auch einordnen und verarbeiten können. Das Ganze ist sehr sportlich. Ich brauche jetzt mindestens acht Tage, an denen ich mich irgendwie erholen kann. Meine Batterien sind platt.

Tageblatt: Sie wurden auch in Europa gehört: Wie stressig ist der Presserummel um Ihre Person?

Jean Asselborn: Die Pressetermine sind anstrengend, aber zu bewältigen. Schwierig wird es, wenn man von einer Versammlung hetzt, von einem Standort zum nächsten, und gleichzeitig möglichst präzise und inhaltlich korrekt bleiben will. Zudem glaubt jeder, dass ich in einem eigenen Jet reise. Ich habe im Vergleich zu anderen Außenministern kein Riesenteam, keinen eigenen Jet und muss mich wie jeder andere mit Wartezeiten an Flughäfen rumschlagen. Der physische Stress kommt also auch noch hinzu. Jeder Journalist, der mit mir reist, kann sich ein Bild davon verschaffen. Mein Körper funktioniert nur, wenn ich Sauerstoff habe. Den erhalte ich nur auf meinem Fahrrad. Ab und zu habe ich das Gefühl, zu ersticken, wenn mir der sportliche Ausgleich fehlt. Bewegung ist zentral. Ich profitiere jetzt von meinen wenigen freien Tagen.

Tageblatt: Vor der Présidence wurde immer wieder darüber spekuliert, dass sie nach der EU-Ratspräsidentschaft zurücktreten würden. Sie haben es immer wieder verneint: Wie sieht Ihre politische Zukunft aus?

Jean Asselborn: Ich trete selbstverständlich nicht zurück. Ich setze mich weiterhin für Luxemburg als Außenminister ein. Ich muss mich nun für unsere Interessen einsetzen. Ich profitiere von der Zeit während der Présidence und auch von meinen Kontakten sowie Netzwerken, die ich während unserer Zeit im UN-Sicherheitsrat geknüpft habe. Ich will Luxemburg viele Türen öffnen. Internationale Politik lebt von persönlichen Beziehungen.

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