Interview de Jean Asselborn avec le Tageblatt

"Friedenssicherung bedeutet(...)nicht nur militärische Lösungen"

Interview: Tageblatt

Tageblatt: Welcher Aspekt der UN-Charta ist für Sie am zentralsten?

Jean Asselborn: Die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit ist und bleibt für mich die Kernaufgabe der Vereinten Nationen. Wie Willy Brandt einmal sagte: "Der Frieden ist nicht alles, aber alles ist ohne den Frieden nichts." Friedenssicherung bedeutet jedoch nicht nur militärische Lösungen. Es muss ein Ganzes sein: Konfliktverhütung, aber auch Friedenskonsolidierung, Aufbau der Rechtstaatlichkeit, Schutz der Menschenrechte, wirtschaftlicher Wiederaufbau und Fortschritt, Armutsbekämpfung. Die verschiedenen Bereiche und Kompetenzen der Vereinten Nationen müssen zum Tragen kommen, die Kräfte müssen vereint werden, so wie es in der Charta steht.

Tageblatt: Was halten Sie von der geläufigen Kritik, dass die Vereinten Nationen ineffizient sind? Wird dadurch der Blick zu sehr auf die Vorgänge im UN-Sicherheitsrat gerückt? Wenn ja, weshalb, und passiert dies angesichts der Blockadehaltung im Sicherheitsrat zu Recht?

Jean Asselborn: Ich teile diese Kritik nicht. Sicher gibt es Aktivitätsbereiche, Programme und Organe in den Vereinten Nationen, die verbesserungsfähig sind. Diese gibt es überall. Aber man kann nicht einfach die oft lebensrettende Arbeit, die tagtäglich und über die letzten 70 Jahre von den Vereinten Nationen geleistet wurde, abtun. Sehen Sie sich nur die Arbeit der Vereinten Nationen in Bereichen wie Entwicklungszusammenarbeit, humanitäre Hilfe, Gesundheit, soziale und wirtschaftliche Entwicklung, Umwelt und Klimaschutz, Respekt für Menschenrechte sowie Rechtstaatlichkeit an. Auch in Sachen Friedenserhalt und Friedensbildung ist die Bilanz positiver, als sie oft dargestellt wird. Die überwältigende Mehrheit der Beschlüsse des Sicherheitsrates wird einstimmig angenommen, einschließlich der Mandate für die UN-Friedensmissionen. Wo wir uns gemeinsam mit anderen starkmachen, ist, dass das Vetorecht der ständigen Sicherheitsratsmitglieder, das nun einmal eine Realität ist, in Fällen von schweren Menschenrechtsverletzungen nicht zum Zuge kommt. Wir unterstützen hier die Initiative Frankreichs zur Annahme eines freiwilligen "code de conduite" durch die fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates. Darüber hinaus haben wir aktiv, als Mitglied der informellen ACT Gruppe - "Accountability, Coherence, Transparency" - mitgearbeitet an dem Ausarbeiten eines zweiten "code de conduite", der alle UN-Mitglieder betrifft und dem sie sich verpflichten, als potenzielle nicht -ständige Mitgliedsländer des Sicherheitsrates, alles zu tun, um schwere Menschenrechtsverletzungen zu vermeiden sowie zu stoppen und gängige Resolutionsentwürfe zu unterstützen. Diese Initiative wird heute, anlässlich der Feierlichkeiten zum 70. Geburtstag der Vereinten Nationen, an denen ich teilnehme, offiziell präsentiert.

Tageblatt: Sie haben in einem Tageblattinterview betont, dass die Reform der Vereinten Nationen seit langem ein Thema ist, jedoch nicht schnell genug voranschreitet und kaum realistisch erscheint. Ist die UNO unter diesem Gesichtspunkt noch zukunftsfähig beziehungsweise überhaupt zeitgemäß?

Jean Asselborn: Man darf die "Reform der Vereinten Nationen" nicht gleichstellen mit der "Reform des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen". Tiefgreifende Reformen wurden über die Jahrzehnte durchgeführt, neue Strukturen und Organe, wie der Menschenrechtsrat oder die Kommission für Friedenskonsolidierung wurden geschaffen. Dieses Jahr laufen gleich drei große Reformprozesse im Bereich der Friedensmissionen, der Friedenserhaltung und der Frauengleichstellung. Es stimmt jedoch, dass die letzte Reform des Sicherheitsrates auf 1966 zurückgeht und die aktuellen Diskussionen über eine grundlegende Reform des Sicherheitsrates, in der einen oder anderen Form, seit über 20 Jahren andauern. Die jeweiligen nationalen Interessen sind groß, sehr groß, und die Positionen stehen sich teils diametral gegenüber: ein Durchbruch ist deshalb extrem schwierig und erscheint tatsächlich kurzfristig kaum realistisch.

Tageblatt: Gibt es für Sie Alternativen zur aktuellen Weltordnung, die stark von den Geschicken der UNO abhängig ist?

Jean Asselborn: Nein. Die Vereinten Nationen mögen nicht perfekt sein, aber die Krisen der letzten Jahre und Monate haben uns einmal mehr gezeigt, dass es keine unilateralen Lösungen gibt, dass wir unsere Kräfte vereinen müssen. Die einzige Organisation, die die nötige Legitimität hat, solche multilateralen Lösungen herbeizuführen, sind die Vereinten Nationen - die 193 Staaten.

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