Interview de Jean Asselborn avec le Tageblatt

"Mehr Stacheldraht ist keine Lösung"

Interview: Tageblatt

Tageblatt: Welche Prinzipien sollten Europas Asylpolitik leiten?

Jean Asselborn: Europa ist ein Friedensprojekt. Es bezieht sich unter anderem auf die europäische Grundrechtecharta. In ihr steht, dass jeder Mensch, der verfolgt wird, Schutz in der EU erhält. Wir sind zurzeit mit einer Situation konfrontiert, die schwer mit irgendeiner Entwicklung vergleichbar ist. Wir haben seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs kaum eine ähnliche humanitäre Katastrophe erlebt. Es geht nicht darum, die Problematik mit Fatalitäten und einer niedergeschlagenen Haltung anzugehen.

Tageblatt: Was steht auf dem Spiel

Jean Asselborn: Man muss Folgendes klar erkennen: Um die bestehende Situation zu lösen, braucht es sehr viel Kraft - um die Zukunft der Migration in Europa zu regeln, braucht es deren vielleicht noch mehr. Morgen (am heutigen Montag, Anm. d. Red.) ist wahrscheinlich die wichtigste Sitzung, die wir während unserer Presidence haben. Es ist zudem jene Ratssitzung, auf die jeder seit langer Zeit blickt. Es geht nicht um den Euro, um Wachstum, auch nicht um Steuern, sondern um Menschen. Die Herausforderung hat einen enorm hohen Stellwert.

Tageblatt: Welche Strategie verfolgt Luxemburg als Vorsitzender der EU-Ratspräsidentschaft?

Jean Asselborn: Man muss alles zunächst einmal in den Kontext setzen. Wir müssen die Menschen schützen und solidarisch sein. Wirksames, effizientes Vorgehen ist notwendig. Wir dürfen wichtige Fragen nicht aufschieben. Entschiedenes Handeln steht im Vordergrund. Es gibt zudem Regeln für die Europäische Union, die sie einhalten muss. Aber auch für Menschen, die in der EU Schutz suchen.

Tageblatt:  An was denken Sie?

Jean Asselborn: Es gibt die Regeln der Genfer Konventionen, gleichzeitig müssen aber auch die Regeln, wie Europa funktioniert, eingehalten werden. Die Gesamtproblematik ist nicht eine nationale, sondern eine europäische Herausforderung. Das Ganze muss deshalb von uns Europäern als europäische Thematik betrachtet werden, aber auch von den Flüchtlingen.

Tageblatt: Kommt Europa denn seiner Schutzverpflichtung nach?

Jean Asselborn: Ich nenne das Solidarität und Verantwortung. Wir wollten im Juli die Umverteilung von 40.000 Menschen beschließen. Morgen machen wir nach, der Beratung mit dem Europaparlament den ersten Schritt in diese Richtung, um den Beschluss umzusetzen. Wir sind bei rund 35.000 Flüchtlingen angekommen. Damit können wir direkt am 15. September beginnen. Das sind Flüchtlinge, die in Italien und Griechenland angekommen sind und auf andere europäische Staaten umverteilt werden. Mit Blick auf die angepeilten 120.000 Flüchtlinge versuchen wir mit unserer luxemburgischen Ratspräsidentschaft, eine politische Vereinbarung zu ermöglichen. Diese soll am 7. und 8. Oktober umgesetzt werden. Wir bleiben auch bei der Zahl von 120.000 Flüchtlingen. 54.000 Menschen aus Ungarn, 50.400 aus Griechenland und 15.600 aus Italien sind laut dem Vorschlag der EU-Kommission vorgesehen.

Tageblatt: Ungarn schattet auf stur.

Jean Asselborn: Ja, Ungarn hat bislang entschieden, nicht Teil der europäischen Lösung zu sein. Sie sagen: "Wir haben keine 54.000 Menschen, also können wir euch auch keine 54.000 geben." Ungarn will nicht Teil des europäischen Mechanismus sein. Ich versuche bis zum Beginn des Gipfels, dies zu ändern. Das Wichtigste ist und bleibt aber, dass wir nicht an der Zahl der 120.000 rütteln. Wir lassen, die 54.000 Flüchtlinge aus Ungarn nicht fallen.

Tageblatt: Einer der Knackpunkte sind die sogenannten "Hotspots".

Jean Asselborn: Die Umverteilung der Menschen kann nur klappen, wenn die "Hotspots" funktionieren. Flüchtlinge müssen registriert werden, ihre Fingerabdrücke zur Identifikation abgenommen und gleichzeitig Gesundheitschecks durchgeführt werden, Kleider an die Menschen verteilt werden, um eine Ankunft in Würde zu ermöglichen. Es muss zudem ein erstes Gespräch durchgeführt werden. Wir müssen uns auf jene Menschen konzentrieren, die unter die Genfer Konventionen fallen. Für Flüchtlinge, die nicht darunter fallen, müssen Rückführungen organisiert werden.

Tageblatt: Italien und Griechenland sind in dieser Frage zentral, beide verzeichnen aber unterschiedliche Fortschritte mit ihren "Hotspots".

Jean Asselborn: In Italien sind sehr große Fortschritte zu verzeichnen. Es gibt hingegen in Griechenland Probleme. Deshalb müssen wir hier mehrere Dinge tun. Ich habe gerade mit EU -Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker darüber diskutiert.

Tageblatt: Welche Maßnahmen schweben Ihnen für Griechenland vor?

Jean Asselborn: Wir müssen den Schutz der Grenzen im Zusammenspiel mit der europäischen Grenzschutzagentur Frontex verbessern. Es müssen noch viele Fortschritte verbucht werden, damit Griechenland auch seine Grenzen überwachen kann. Das Land hat 1.000 Inseln. Darunter befinden sich einige, die nur ein paar hundert Kilometer entfernt sind. Griechenland muss Hilfe angeboten bekommen und sie auch annehmen. Es muss dabei geholfen werden, die Aufzeichnung der Menschen durchzuführen und den Umgang mit den unterschiedlichen Dossiers zu bewältigen.

Tageblatt: Die Identifikation scheint das zentrale Problem zu sein.

Jean Asselborn: Es ist wichtig, dass man weiß, wer die Menschen sind, die ankommen, und wo sie herkommen. Das schafft Griechenland momentan nicht allein. Hier kann auch das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) behilflich sein. Gut möglich ist, dass auch der Zivilschutz in verschiedenen Situationen zum Einsatz kommen muss. Es muss zudem eine bessere Zusammenarbeit zwischen Europol und der Einheit für Zusammenarbeit der EU (Eurojust) stattfinden, um die Schleuserbanden zu eliminieren. In meinen Augen - und das höre ich immer von Frankreich und von Deutschland, und von den Visegrad-Staaten noch viel mehr gibt es nur eine Umverteilung von Flüchtlingen, wenn wir wissen, mit wem wir es zu tun haben.

Tageblatt: Laufen wir Gefahr, dass sich die EU bei all diesen Bedingungen selbst lahmt und ihre Hilfspflicht unterlässt?

Jean Asselborn: Wir dürfen selbstverständlich nicht den Fehler begehen, dass das eine politische Lager sagt "solange die "Hotspots" nicht funktionieren, können wir keine Umverteilung durchführen" und das andere daraufhin antwortet "solange ihr keine Umverteilung durchführt, funktionieren die ,Hotspots` nicht." Die Flüchtlingspolitik aufeinander abzustimmen, gleicht oft der Quadratur des Kreises.

Tageblatt: Sind "Hotspots" in Balkan-Staaten eine Lösung?

Jean Asselborn: Man denke nur an die Balkan -Route über Serbien und Mazedonien. Dort sind "Hotspots" nur mit dem Einverständnis dieser Länder vorstellbar. Man muss diesen Staaten verdeutlichen, dass es sich bei den "Hotspots" nicht um Flüchtlingslager handelt. Das ist nicht Sinn und Zweck davon. Im Gegenteil. Wenn die "Hotspots" anständig funktionieren, gelingt die Umverteilung der Flüchtlinge schneller.

Tageblatt: Der syrische Bürgerkrieg ist weiterhin zentral. Wie sieht die europäische Strategie aus, um den syrischen Nachbarstaaten zu helfen?

Jean Asselborn: Die meisten Flüchtlinge in Griechenland kommen beispielsweise aus Flüchtlingscamps der Nachbarstaaten Syriens und des Iraks. Wir müssen Ländern wie Jordanien, der Türkei und dem Libanon sehr stark helfen. Sie müssen finanzielle Hilfe erhalten, damit die Flüchtlingslager weiterhin funktionieren. Eine der Ursachen, dass die Menschen sich zurzeit massiv in Bewegung gesetzt haben, ist die immer komplizierter werdende Essensversorgung in den Flüchtlingscamps. Die Kinder erhalten in den Lagern zudem keine schulische Ausbildung mehr.

Tageblatt: Erhält das UN-Flüchtlingswerk UNHCR genug Geld?

Jean Asselborn: Wir müssen dem UNHCR eindeutig mehr Geld geben. Die Norweger haben sich angeboten, um eine Geberkonferenz für das UNHCR zu organisieren. Es wird zudem eine Konferenz im November in La Valletta, Malta, geben. Wir brauchen eine Strategie und finanzielle Mittel für unsere Kooperationspolitik.

Tageblatt: Die Golf-Staaten zahlen fleißig an das UNHCR, nehmen jedoch keine syrischen Flüchtlinge auf. Verlogen?

Jean Asselborn: Die Flüchtlingsfrage ist nicht eine rein europäische Thematik. Was sich im Nahen Osten abspielt, ist ein internationales Problem. Selbst die USA und Australien werden aktiv - wobei ich im letzteren Fall hoffe; dass man die Menschen nicht auf eine Insel setzt. Man muss alle Länder im Nahen Osten dazu bewegen, die wirklich über die finanziellen Mittel und den Raum verfügen, Flüchtlinge aufzunehmen. Sie haben einen hohen Bedarf an Arbeitskräften. Dort könnte man Menschen eine neue Chance geben. Ich hoffe, dass der kulturelle Streit zwischen Sunniten und Schiiten nicht das Hauptkriterium ist, weshalb man teilweise keine Flüchtlinge aufnimmt. Das Problem ist gleichzeitig, dass syrische Flüchtlinge oft nicht im arabischen Raum bleiben wollen.

Tageblatt: Wie sieht das Worst-Case Szenario für die EU aus?

Jean Asselborn: Mehr Stacheldraht ist keine Lösung. Ich sehe folgende Gefahr: Wenn Ungarn die Grenzen hermetisch abriegelt, suchen die Menschen einen anderen Weg. Dann ist Ungarn nicht das einzige Land, das die Grenzen dichtmacht. Dann folgen weitere Staaten im Balkan, die ihre Grenzen schließen. Solch eine Situation wäre unkontrollierbar. Geschlossene Grenzen bedeuten, dass Menschen den Weg über andere Routen suchen. Deshalb muss schnellstmöglich der "Hotspot" in Griechenland errichtet werden. Die Aufnahme von Flüchtlingen und die daran gekoppelten Zahlen sind zu bewältigen. Funktioniert jedoch der "Hotspot" in Griechenland nicht, funktioniert gar nichts mehr.

Tageblatt: Investiert die EU genug Mittel in die Lösung dieser Krise?

Jean Asselborn: Wir müssen in der EU ein großes Budget für diese Problematik zur Verfügung haben. Die Flüchtlingsfrage wird uns die nächsten Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte beschäftigen. Ich sehe nicht, wie in nächster Zeit Stabilität in Nordafrika oder im Nahen Osten einkehren soll.

Tageblatt: Wie beurteilen Sie die englische Herangehensweise?

Jean Asselborn: Die britische Herangehensweise ist anders als jene der EU. Sie ist jedoch nicht ganz falsch. Man kann die Menschen auch aus den Flüchtlingslagern abholen. Damit vermeidet man die Schleuserproblematik. Zudem ist damit die Botschaft verbunden: "Wenn nichts mehr geht, sind wir da, um euch abzuholen und in Europa unterzubringen." Das ist vielleicht für verschiedene Länder einfacher als eine Umverteilung. Das wollen wir als EU-Ratspräsidentschaft im Auge behalten.

Dernière mise à jour