Interview de Jean Asselborn avec le Tageblatt

"Die "Buy American"-Mentalität muss gebrochen werden"

Interview: Tageblatt (Dhiraj Sabharwal)

Tageblatt: Welche Rolle spielt die Migrationsfrage während der "Présidence"?

Jean Asselborn: Es geht nicht um Waren, sondern um Menschen. Europa kann zwar nicht alle Probleme in Afrika und der arabischen Welt lösen. Die EU-Kommission hat jedoch richtig reagiert, ein Paket aus der Migrationsfrage zu machen. Das wurde auch so im Rat festgehalten. Die Einigung auf einen Militäreinsatz, der kriminelle Netzwerke in Libyen zerstören soll, ist noch außer Reichweite. Ich wiederhole: Es geht nicht darum, Schiffe zu bombardieren, sondern das Geschäftsmodell von jenen, die mit Menschenleben spielen, zu zerstören. Die Rettung der Menschen ist mindestens genauso wichtig. Das ist der zweite Teil. Der hat sich seit dem letzten Rat deutlich verbessert. Es sind nicht nur Triton und Poseidon, sondern die Italiener und die Franzosen selbst, die helfen. Auch die Briten, die Deutschen, die Kroaten helfen. Es ist alles andere als perfekt, aber es konnten dadurch viele Menschen gerettet werden. Sie plädieren oft dafür, dass man in den Heimatstaaten der Flüchtlinge ansetzen muss. Das ist die wichtigste Frage: Wie kommt es zu einer Verbesserung in den krisengeplagten Ländern? Das ist die Wurzel des Problems. Die Lösung lautet Entwicklungshilfe, Einsatz bei den Vereinten Nationen auch nach 2015. Ich weiß, wie schwer das in Krisenzeiten ist, wenn die budgetären Mittel nicht mehr vorhanden sind. Wir dürfen jedoch nicht aufgeben und bei unseren Anstrengungen nachlassen.

Tageblatt: Wie gehen Sie vor?

Jean Asselborn: Die Kommission hat ihren Vorschlag gemacht: Es sollen 20.000 Menschen, die aus Afrika flüchten, nach Europa kommen und verteilt werden. Alles auf freiwilliger Basis. Wer mehr Menschen aufnehmen will, kann dies tun. Das Gegenteil gilt ebenfalls. Dann sollen die 24.000 Flüchtlinge aus Italien und 16.000 aus Griechenland auf andere verteilt werden. Die Kommissionspläne müssen mit qualifizierter Mehrheit durch die EU-Mitgliedsstaaten angenommen werden. Die Glaubwürdigkeit Europas steht auf dem Spiel. Jetzt muss der Rat liefern. 

Tageblatt: Welche Rolle spielt Großbritannien während der "Présidence"?

Jean Asselborn: Wir werden uns viel mit Großbritannien beschäftigen. Das wird im Zusammenspiel mit David Cameron und von ihm ausgewählten Ländern geschehen. Wir befinden uns also auf der Ebene der Premierminister. Ich wurde aber vom britischen Außen- und dem britischen Europaminister gebeten, dass sie sich mit mir als Präsidenten de "Conseil affaires générales" unterhalten wollen. Ob das zustande kommt, ist noch ungewiss. Wenn man mich aber dartun bittet, werde ich das selbstverständlich tun.

Tageblatt: Wie wird sich Luxemburg beziehungsweise die Europäische Union bei diesen Gesprächen positionieren?

Jean Asselborn: Wir befinden uns in einer sehr gefährlichen und entscheidenden Phase. Ich habe mich vor einem Monat kurz vor den Wahlen mit meinem britischen Amtskollegen Philip Hammond getroffen. Er sagte mir: 'Als wir in den 70er Jahren das Referendum über den EU -Beitritt hatten, war die britische Konzeption jene, dass die EU vor allem ein breiter Binnenmarkt sein wird. Keine Partei hat damals von einem immer engeren Zusammenschluss der EU gesprochen.' Danach sagte er mir: 'Wir haben jetzt ein Mandat, um unsere Mitgliedschaft neu auszuhandeln.' Ich habe ihm geantwortet, dass alle EU-Mitgliedstaaten ihre jeweiligen Mandate hätten. Europa bedeutet doch gerade, dass die teilweise unterschiedlichen Mandate den Weg zueinander finden. Konsens ist in Europa zentral.

Tageblatt: Die Verhandlungsbasis ist nicht gerade die einfachste und gesündeste für Europa

Jean Asselborn:  Ja, im Jahr 2015 muss man im Gegensatz zu 2005 Europa praktisch täglich Dritten erklären. Die englische Haltung ist ein gefährliches Spiel: 'Wenn wir dieses und jenes erhalten, sagen wir ja, und wenn nicht, nein.' Dass die Briten ein 'Opt out' aus der 'Ever Closer Union' kriegen, ist nicht die Frage. Das besteht de facto. Wenn man aber den aktuellen Forderungen komplett folgt, zerstören wir die Essenz der EU. Da müssen wir sehr vorsichtig sein. Die luxeniburgische Präsidentschaft muss die geostrategische Relevanz Großbritanniens berücksichtigen. Ich bin mir dessen bewusst. Man muss nur einen Atlas nehmen und Großbritannien weglassen: Da fehlt geografisch ein Stück - aber auch politisch, strategisch, finanziell, militärisch und kulturell. Wir befinden uns ohne die Briten in einer anderen Liga. Wir können Großbritannien gleichzeitig nicht so entgegenkommen, dass wir Europa nachher unkenntlich machen. Das kann nicht sein. Deswegen muss man dazwischen einen Weg finden. Die Briten müssen hier konkreter werden.

Tageblatt: Wie wollen Luxemburg und die EU in puncto Personenfreizügigkeit vorgehen?

Jean Asselborn: Wenn man an der Personenfreizügigkeit rüttelt, berührt man direkt die Schengen-Frage. Und dann hat man das, was die Schweiz von uns verlangt: den freien Verkehr von Waren, Kapital, nicht aber von Menschen. Das geht nicht. Entgegen geläufiger Berichte wollen Frankreich und Deutschland in diesem Punkt und was einen neuen EU -Vertrag angeht auf einer Linie bleiben.

Tageblatt: Die Reizthemen und der Hoffnungsschimmer Die Reizthemen TTIP und CE-TA werden Luxemburg auch während der EU-Ratspräsidentschaft begleiten. Wie groß ist die Begeisterung?

Jean Asselborn: TTIP fällt unter den Außenhandel, der von mir im Rat für Auswärtiges präsidiert wird. Ich habe mir das Thema nicht ausgesucht. Wir müssen einerseits gut mit dem EP und andererseits mit der EU-Kommission kooperieren. Es gibt zurzeit eine positive Entwicklung im TTIP-Dossier, vor allem was den umstrittenen Investorenschutz ISDS ("Investor-state dispute settlernent") und die Schiedsgerichte betrifft.

Tageblatt: Und zwar?

Jean Asselborn: Der EU-Abgeordnete Bernd Lange (S&D) ist im Europaparlament Vorsitzender des Ausschusses für internationalen Handel (INTA). Er hat gemeinsam mit der für TTIP verantwortlichen EU-Kommissarin Cecilia Malmström und mit sechs Ländern, zu denen Luxemburg, Deutschland, Frankreich, die Niederlande, Schweden und Dänemark gehören, auf einen Vorschlag hingearbeitet. Es könnte um ein Schiedsgericht "nouvelle génération" gehen.

Tageblatt: Was verstehen Sie unter "nouvelle génération"?

Jean Asselborn: Im EP gab es eine Abstimmung von jenen Kommissionen, die mit internationalem Handel zu tun haben. Dort gab es letzte Woche eine deutliche Mehrheit von 18 zu 13, um an diesem ISDS "nouvelle génération" zu arbeiten. Es sind nur noch die Kollegen von den Grünen, die ein Problem damit haben. Es scheint aber, dass diese Richtung zur Erstellung eines ganz neuen Mechanismus führen könnte.

Tageblatt:  Was ist der Unterschied?

Jean Asselborn: Der Unterschied ist, dass durchgehend Richter und nicht etwa Anwälte zum Einsatz kommen.

Tageblatt: Wer stellt diese Richter: Die EU oder die USA?

Jean Asselborn:  Sie werden international ausgewählt. Bei der Zusammensetzung müssen sich die EU und die USA im Fall von TTIP jeweils auf einen Richter einigen. Bei CETA sind es Kanada und die EU, die den Kandidaten bestimmen. E 5 sind professionelle Richter. Die Anhörungen wären öffentlich. Das wäre ein großer Fortschritt. Und man könnte in Berufung gehen: Es gäbe einen "appel". Außerdem könnte die nationale Gerichtsbarkeit nicht einfach in die Ecke gedrängt werden.

Tageblatt: Das passiert doch gerade durch diese Form von Schiedsgerichten?

Jean Asselborn: Man kann bei diesem Vorschlag auswählen, ob man ISDS oder ein nationales Gericht nutzt. Man kann nicht einfach zwischen beiden hin und her wechseln. Hinzu kommt, dass es auch in Europa Länder gibt, in denen das Justizsystem immer noch nicht hundertprozentig funktioniert. Und Investorenschutz gibt es ja bereits. Das ist eine europäische Erfindung. Es ist a priori nicht etwas Negatives, wenn die Bedingungen der "nouvelle génération" berücksichtigt werden.

Tageblatt: Kann dieser Vorschlag noch Auswirkungen auf CETA haben?

Jean Asselborn: Im Europaparlament wird versucht, dass man den ISDS "nouvelle génération" auch in CETA integrieren kann. Das ist jedoch nicht ganz einfach, weil CETA paraphiert ist und die Kanadier der Änderung zustimmen müssten. Es gibt aber momentan ein Abkommen zwischen EU-Kommission, EP und Rat, um in diese Richtung zu arbeiten. Es braucht nur ein wenig guten Willen. Ich garantiere für nichts, denke aber, dass es machbar ist, den ISDS "nouvelle génération auch bei CETA zu integrieren. Das Problem ist aber folgendes: Wir wissen zurzeit nicht, wie die USA darauf reagieren werden. Es wäre aber zumindest eine gemeinsame europäische Position, die man verteidigen könnte.

Tageblatt: Machen Sie sich keine Sorgen über die Inhalte von TTIP?

Jean Asselborn: Ich kann es nur wiederholen: Alles, was die Substanz betrifft, wird erst im Herbst verhandelt. Aber bei der Substanz ist es für uns klar, dass zwar verhandelt wird, nicht jedoch über die sozialen, öffentlichen, ökologischen und die für Konsumenten relevanten Errungenschaften. Bei diesen Punkten können keine Einschränkungen innerhalb des geltenden europäischen Rechts gemacht werden. Andererseits muss man sagen, dass unsere amerikanischen Freunde sich bewegen müssen. Vor allem beim "marché public". Sie sind in Europa, wir aber nicht bei ihnen. Die "Buy American"-Mentalität muss gebrochen werden. Wenn das nicht funktioniert, ist es sinnlos, ein Freihandelsabkommen auszuhandeln. Es geht nicht nur um Zollfragen.

Tageblatt: Wieso haften Sie immer noch an den Verhandlungen fest?

Jean Asselborn: Ich glaube, dass Europa und die USA bei den Standards und den Regeln des gemeinsamen Umgangs etwas anderes zustande bringen, als wenn das jetzt von den USA und China ausgehandelt wird. Oder mit den Brics-Staaten. Die Europäer können ihre Werte viel stärker verteidigen, wenn sie selbst statt andere Staaten für sie verhandeln. Im Oktober, November wissen' wir mehr. Der Rat ist festgelegt. Er wird entscheidend sein.

Tageblatt: Wird TTIP noch während der EU-Ratspräsidentschaft abgeschlossen?

Jean Asselborn: Das kann ich mir nicht vorstellen.

Tageblatt: Wie erklären Sie den Luxemburgern die EU-Ratspräsidentschaft?

Jean Asselborn:  Wenn man EU-Mitglied ist, muss man die Ratspräsidentschaft übernehmen. Vor allem als EU-Gründungsmitglied. Den neuen Mitgliedsstaaten hat man gesagt, dass sie warten können, bis sie den genauen Ablauf kennen. Aber auch sie stoßen langsam dazu. Litauen hatte jetzt seine erste Präsidentschaft, danach Lettland. Malta und weitere Staaten werden auch noch folgen. Man übernimmt die Präsidentschaft also turnusmäßig. Die EU-Präsidentschaft ist nicht mehr das Gleiche wie vor der Lissabon-Ära. Es gab keinen Präsident des Europäischen Rats und keinen Präsidenten des Außenministerrats. Die EU-Ratspräsidentschaft hatte also politisch ein ganz anderes Ausmaß. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir während unserer Präsidentschaft wichtige Themen behandeln.

Tageblatt: Wie empfinden Sie die "Présidence"-Stimmung innerhalb der Regierung?

Jean Asselborn: Ich kann nur sagen, dass ich viel Begeisterung bei den einzelnen Ministern sehe und spüre. Jeder will seine Arbeit so gut wie möglich machen. Arbeitsminister Nicolas Schmit ist etwa eine große Hilfe. Ich müsste theoretisch an verschiedenen Tagen zeitgleich im Rat und im Europaparlament anwesend sein. Es finden auch derart viele Dinge rund um die Präsidentschaft statt, dass es wichtig ist, dass ein erfahrener Politiker wie Nicolas Schmit uns im EP vertritt.

Tageblatt: Es wird oft genörgelt, dass die "Présidence" zu teuer für Luxemburg sei. Wie begegnen Sie den Kritikern?

Jean Asselborn: Sie kostet uns rund 100 Millionen Euro, aber man muss wissen, in was wir dieses Geld investieren. Die Ratspräsidentschaft gibt Luxemburg eine wichtige Sichtbarkeit, die nicht zu unterschätzen ist. Und: Das Großherzogtum kann in zentralen Dossiers wichtige Akzente setzen und dabei behilflich sein, dass die Europäer eine gemeinsame Position haben.

Tageblatt: Nimmt man "kleine" Staaten wie Luxemburg denn eigentlich bei dieser wichtigen Aufgabe ernst?

Jean Asselborn: Bei uns spielt die Erfahrung eine extrem wichtige Rolle. Luxemburg wird als Kern Europas wahrgenommen. Dies ist sogar vielleicht mehr der Fall als bei großen Ländern. Die Benelux-Staaten haben Europa mit entdeckt und es immer fertiggebracht, die Deutschen, die Franzosen und die Italiener unter einem Dach zu halten. Wir machen das mit 300 Leuten, während andere Länder 3.000 zur Verfügung haben.

Tageblatt: Und das funktioniert?

Jean Asselborn: Das hat elfmal funktioniert. Dann wird es auch jetzt funktionieren (lacht).

Tageblatt: Juncker-Plan Europa tut sich auch in puncto wirtschaftliche Genesung schwer. Welche Rolle spielt der Juncker-Plan?

Jean Asselborn: Für ein Land wie Bulgarien ist der Juncker-Plan mit großen Hoffnungen verbunden. Dies gilt auch für viele andere Staaten. Die 315 Milliarden Euro sind wichtig, um Europas Wirtschaft wieder anzukurbeln. Es gibt jetzt eine Vereinbarung zwischen dem Rat, der Kommission und dem Europaparlament (EP). Der Juncker-Fonds soll zudem in Luxemburg bei der Europäischen Investitionsbank (EIB) verwaltet werden. Er spielt also in allen Hinsichten eine wichtige Rolle. Der Mensch

Tageblatt: Wie groß ist die Belastung für den Menschen Jean Asselborn?

Jean Asselborn: Es ist nicht nur die Präsidentschaft. Als Außenminister ist man physisch herausgefordert. Nach dem Referendum konzentrieren wir uns auf die "Présidence". Man muss an der Substanz arbeiten, Dinge, organisieren und sich mit der Presse auseinandersetzen. Und das alles neben der normalen Arbeit. Aber ich beklage mich nicht. Ich habe mir folgendes Ziel gesetzt: Wenn ich jedes Jahr auf dem Rad den Ventoux bezwinge, schaffe ich das auch noch.  Der Vorsitz im Rat der EU (auch: Ratspräsidentschaft oder "Présidence") wird von den EU -Mitgliedstaaten im Turnus wahrgenommen und wechselt alle sechs Monate. Während dieser sechs Monate leitet der Vorsitz die Sitzungen und Tagungen auf allen Ebenen des Rates und sorgt für Kontinuität der Arbeit der EU im Rat. Mitgliedstaaten, die den Vorsitz innehaben, arbeiten in Dreiergruppen als Dreiervorsitz eng zusammen. Diese Regelung wurde mit dem Vertrag von Lissabon 2009 eingeführt. Der Dreiervorsitz formuliert langfristige Ziele und erarbeitet ein gemeinsames Programm mit den Themen und den wichtigsten Fragen. Auf der Grundlage dieses Programms stellt jedes der drei Länder sein eigenes, detaillierteres Sechsmonatsprogramm auf. Der aktuelle Dreiervorsitz besteht aus dem italienischen, dem lettischen und dem luxemburgischen Vorsitz.

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