Interview mit Jean Asselborn in der WELT

"Ich hoffe, dass es Widerstand gibt gegen Herrn Kurz aus Österreich"

Interview: DIE WELT (Christoph B. Schiltz)

WELT: Herr Minister, Sie sind in Luxemburg auch für Migrationsfragen verantwortlich und Sie sind darum am Dienstagmittag in Brüssel auch beim Sondertreffen der EU-Innenminister zu Afghanistan dabei. Was erwarten Sie?

Jean Asselborn: Ich erwarte keine Wunder. Ich wäre schon zufrieden, beim Verlassen der Sitzung feststellen zu können, dass die Flamme der Humanität in der EU nichttotal erloschen ist.

WELT: Was heißt das konkret?

Jean Asselborn: Ich hoffe, dass es Widerstand gibt gegen Herrn Kurz aus Österreich und Herrn Janša aus Slowenien, die sich beide klar und definitiv im Einklang mit Orbán, Salvini und Le Pen befinden. Sie alle lehnen eine direkte menschliche Solidarität in diesem extrem dramatischen Moment mit dem gefolterten Volk in Afghanistan ab. Sie verlieren damit die Qualität, Europäer zu sein. Dagegen muss die Mehrheit der Mitgliedstaaten für die Werte der Europäischen Unionstehen.

WELT: Wie könnte die europäische "Flamme der Humanität" aussehen?

Jean Asselborn: Da gibt es verschiedene Hebel. Wichtig wäre zunächst, dass die Europäer die Nachbarländer Afghanistans finanziell so stark unterstützen, dass diese bereitwären, ihre Grenzen offenzulassen und möglichst viele Menschen, die vor den Taliban fliehen, aufzunehmen. Das allein ist schon eine große Herausforderung, denn in einigen dieser Länder, wie Pakistan und Iran, leben bereits Hunderttausende afghanischer Flüchtlinge. Zweitens: Wir müssen unsere humanitäre Hilfe für die Menschen in Afghanistan weiter erhöhen. Aber das bringt letztlich nur etwas, wenn die Frauenunter den Taliban auch weiterhin Rechte haben werden und nicht wieder wie vor 20 Jahren fast wie Haustiere behandelt werden. Denn es sind die Frauen, die am Ende vor Ort die humanitäre Hilfe leisten.

WELT: Sollte denn auch die EU Flüchtlinge aufnehmen?

Jean Asselborn: Wir sollten uns gemeinsam zu einer Lösung durchringen, die so aussieht, dass alle EU-Länder besonders gefährdete Flüchtlinge aus Afghanistan aufnehmen. Damit müssen wir beim Treffender EU-Innenminister beginnen.

WELT: Was meinen Sie genau?

Jean Asselborn: Die Europäische Union sollte bereitsein, 40.000 bis 50.000 Resettlement-Plätze für afghanische Flüchtlinge zur Verfügung zu stellen. Damit würden wir Mädchen, Frauen, ehemalige Richterinnen, Menschenrechts-Aktivisten oderandere Personen, deren Leben unmittelbar bedroht ist, im Rahmen von Umsiedlungen auf einem legalen und sicheren Weg in Zusammenarbeit mit dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) in die EU holen. Das sollte nicht unmöglich sein. Allein Großbritannien und Kanada nehmen jeweils 20.000 schutzbedürftige Afghanen auf. Was wäre denn, in einer Europäischen Union von 450 Millionen Einwohnern, wenn jedes EU-Land jetzt eine kleine Anstrengung machen würde? Das würde unsere Glaubwürdigkeit beim Einsatz für Menschenrechte sehr stärken. Äußerst wichtig ist es, in diesem Moment die UNO finanziell so zu unterstützen, dass sie über genügend Mittel verfügt, ihren unverzichtbaren Einsatz für Flüchtlinge auch konkret bewältigen zu können. Reicht es denn, bis zu 50.000 Menschen aufzunehmen? Möglicherweise werden in den kommenden Monaten mehrere hunderttausend Menschenaus Afghanistan fliehen. Ich wäre schon zufrieden, wenn wir uns zunächst darauf einigen könnten,40.000 bis 50.000 Menschen aufzunehmen. Und wir sollten jetzt auch nicht den Teufel an die Wand malen.

WELT: Wieso?

Jean Asselborn: Es gibt ja in der EU Stimmen, die davor warnen, dass sich eine massive Flüchtlingsbewegung wie im Jahr 2015 wiederholen könnte. Die aktuelle Situation ist doch gar nicht mit 2015 vergleichbar. Ichkriege Gänsehaut, wenn ich solche Stimmen aus Österreich und vom EU-Vorsitz Slowenien höre. Das Problem ist, dass man mit solchen Sprüchen Angst schürt, aber leider auch Wahlen gewinnt.

WELT: Am Donnerstag treffen sich auch die EU-Außenminister.

Jean Asselborn: Wir werden dort neben aktuellen Fragen zu möglichen weiteren Evakuierungen sicherlich auch mit der Fehleranalyse beginnen. Was ist schiefgelaufen beim sogenannten Staatsaufbau ("nation buliding") und warum? Inwieweit kann, darf oder muss es einen Umgang mit den Taliban geben? Eine äußerst schwierige Frage.

WELT: Die Taliban sind jetzt wieder die Herrscher am Hindukusch. Waren 20Jahre Nato-Einsatz umsonst?

Jean Asselborn: Ich bin kein Fatalist. Wir haben es geschafft, die Lebenserwartung der Menschen in Afghanistan merkbar zu erhöhen. Wir haben zwei Jahrzehnte langmitgeholfen, junge Mädchen auszubilden und eine neue junge Elite hervorzubringen. Aber insgesamt ist die Entwicklung im Land natürlich eine große Tragödie. Den Terror konnten wir nichtvollständig besiegen, aber, auch Dank der vielen Opfer junger Menschenleben aus Amerika und Europa, stark reduzieren.

WELT: Haben Sie den Eindruck, dass die Entscheidung vom Frühjahr, spätestens bis September aus Afghanistan alle Nato-Truppen abzuziehen, ein einsamer Entschluss des US-Präsidenten war?

Jean Asselborn: In der ersten Nato-Sitzung mit US-Außenminister Blinken im Frühjahr in Brüssel sagte Blinken uns: Wir hören zu, was Ihr zu sagen habt. Die Antwort der meisten Europäer war: Ja, wir verstehen, dass die USA diesen Einsatz beenden wollen, Joe Biden ist der vierte Präsident, der damit befasst ist – aber der Abzug sollte nicht zu schnell gehen. Die Amerikaner hörten sich das an und deuteten in diesem Moment indirekt an: Wenn Ihr wollt, dass wir noch länger bleiben, müsst Ihr Europäer aber auch bereit sein, weitere militärische Kräfte zu mobilisieren und vor Ort aktiv zu helfen bei der Terrorbekämpfung. Dahaben die meisten Europäer dann auf den Boden geschaut, weil sie wussten, dass es politisch nahezu unmöglich war, diesen Weg mitzugehen. Darum bin ich sehr vorsichtig, wenn ich höre, die Amerikaner wären einfach rausgegangen aus Afghanistan.

WELT: Abgesehen von Afghanistan bleibt die Migration über das Mittelmeer weiterhin ein großes Thema. Ist die EU heute besser gerüstet, mit illegaler Migration fertig zu werden als 2015?

Jean Asselborn: Sicherlich wurde der Schutz der EU-Außengrenzen verbessert. Ich glaube trotzdem, dass wir heute weniger vorbereitet sind als im Jahr 2015.

WELT: Warum?

Jean Asselborn: Damals sagten alle EU-Länder, einschließlich Ungarn: Wir dürfen die Menschen auf dem Meer nicht ertrinken lassen. Das war Konsens. Ich bin nicht davon überzeugt, dass das heute noch jedes Land so sagen würde. Es geht um Verantwortung und Solidarität. Diese Werte werden nicht mehr von allen geteilt.

WELT: Das sagen Sie so einfach. Ich bin sicher, dass auch Kanzler Kurz weiß, was Verantwortung bedeutet.

Jean Asselborn: Wenn es nach Kurz & Company ginge, dann hätten wir effektiv keine Migration mehr auf dem Mittelmeer. Aber sollen wir etwa alle Flüchtlinge, die wir auf dem Meer retten, zurückschicken in diese schrecklichen und vielfach brutalen Lager in Libyen? Im Moment sind es nur noch drei EU-Länder – Irland, Portugal und Luxemburg – die mit Deutschland und Frankreich regelmäßig die Geretteten aufnehmen. Wenn das so weitergeht, werden die Mittelmeeranrainer kein Rettungsschiff mehr in den Hafen lassen, weil sie Angst haben, dass sich niemand bereit erklärt, die Geretteten zu übernehmen.

WELT: Was schlagen Sie vor?

Jean Asselborn: Die Lösung kann nicht sein, Zäune zubauen. Wir sollten in den Häfen, wo die Menschen in der EU ankommen, Strukturen schaffen, um vor Ort zu entscheiden, wer schutzbedürftig ist und wer nicht. Wer dann ein Recht auf Asyl hat, sollte in einem EU-Land Schutz finden. An der Aufnahme sollten sich alle Mitgliedstaaten solidarisch beteiligen. Wer die Kriterien der Genfer Konvention aber nicht erfüllt, muss mit Anstand und mithilfe des UNHCR in die Herkunftsländer zurückgebracht werden.

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