Interview von Jean Asselborn mit dem Deutschlandfunk

Interview: Deutschlandfunk (Stefan Heinlein) 

Stefan Heinlein: Am Telefon in New York am Rande der beginnenden UN-Vollversammlung der dienstälteste Außenminister der Europäischen Union, Jean Asselborn aus Luxemburg. Guten Abend, Herr Asselborn.

Jean Asselborn: Guten Morgen, Herr Heinlein. 

Stefan Heinlein: „Wir entscheiden, wer nach Europa kommt, und nicht die Schlepper.“ So Ursula von der Leyen. Ist das Wunsch oder Wirklichkeit?

Jean Asselborn: Das ist alles Realität, wenn man das so sieht. Aber die Lage ist zurzeit etwas anders. Effektiv sind jetzt doppelt so viele Menschen in Italien angekommen als letztes Jahr. Insgesamt ist in Europa 14 Prozent mehr Migrationsdruck. Wir müssen, glaube ich, nur aufpassen – selbstverständlich wollen wir das Problem lösen -, dass wir den Menschen keine Sachen sagen, die nicht machbar sind. Die Europäische Union oder ein Land kann nicht mit Seemarine die Schiffe stoppen auf hoher See. Menschen, die auf Schiffen sich dirigieren in einen europäischen Hafen, dürfen nicht gestoppt werden. Das ist gegen internationales Recht. Also darf man nicht so viel Zeit damit verlieren, das geht nicht. Allerdings was geht und was ich hoffe, das ist, dass Italien, das vor einer großen Herausforderung besteht, geholfen bekommt von europäischen Ländern. Allerdings muss ich auch hier eine Einschränkung machen. Luxemburg ist ja nicht das größte Land, aber viele andere, ein paar andere haben seit 2015 geholfen, den Italienern, den Griechen, den Maltesern, dass man Menschen, die gerettet wurden, die in Häfen ankamen, aufgenommen hat zum Beispiel auch in unser Land. Aber das waren nur ein paar und wir kommen an die Grenzen. Unsere Auffangstrukturen sind voll. Ein zweites Problem kommt dazu, dass Dublin nicht mehr funktioniert, das heißt die sekundäre Migration in Europa. Italien nimmt keine Menschen mehr zurück, die eigentlich in Italien hätten bleiben müssen, weil sie dort ihre Prozedur angefangen haben oder sogar schon das Schutzstatut bekommen hatten. Wir sind jetzt in einer Situation, wo vieles zusammenkommt und wo wir schauen müssen, dass wir den richtigen Durchblick behalten. 

Stefan Heinlein: Herr Asselborn, ein Einsatz der Marine, das sei nicht möglich, sagen Sie. Dennoch: Die EU-Kommissionspräsidentin hat eine stärkere Überwachung der EU-Außengrenze auf See und aus der Luft angekündigt. Wird es höchste Zeit, unsere Außengrenzen wirksam zu schützen, und wie soll das funktionieren, ohne den Einsatz der Marine?

Jean Asselborn: Man muss wissen, wer in die Europäische Union hineinkommt. Das stimmt. Das ist alles ganz normal und ganz richtig. Das Problem ist, wenn Sie sagen, schützen. Heißt das, dass wir mit Marineschiffen verhindern, dass Menschen über See in die Europäische Union hineinkommen? Das ist ja das Problem, was sich stellt. Ich habe auch gehört, dass verschiedene Politiker sagen, die müssen ja nicht alle nach Europa kommen, die können auch nach Libyen mit den Schiffen fahren. All das ist ja irrealistisch. Wir müssen wissen, wer hereinkommt. Jeder muss registriert werden, der in einem Land der Europäischen Union ankommt. Das ist klar. Aber ich weiß nicht, wie das zu verstehen ist. Wir können ja nicht als Europäische Union mit Frontex oder der Marine, mit Militär auf Menschen schießen, die über das Meer nach Europa kommen. Über den Seeweg ist Europa nicht abzudichten. 

Stefan Heinlein: Herr Asselborn, was ich nicht verstehe: Wie kann man den Schleusern ihr Handwerk erschweren, ohne den Einsatz der EU-Grenzschutzagentur Frontex auf Schiffen auf See? 

Jean Asselborn: Das Problem ist ja tiefer. Die erste Frage ist ja: Warum kommen Menschen aus Tunesien so massiv? – Weil in der Europäischen Union dieses Abkommen mit Tunesien abgeschlossen wurde. Das wurde von Madame von der Leyen, von Herrn Rutte und von Madame Meloni vor allem ausgehandelt. Das war nicht im Ministerrat. Ich weiß nicht, wie weit es in der Kommission war. Und wir haben gewarnt, verschiedene haben gewarnt, wenn dieses Abkommen nicht sehr schnell umgesetzt werden kann, und das wird nicht sehr schnell umgesetzt, weil kein europäisches Geld, Gelder der europäischen Steuerzahler, fließen kann in ein Land, wo man nicht weiß, ob internationales Recht respektiert wird oder ob die Grundrechte der Migranten respektiert werden. 105 Millionen, glaube ich, waren vorgesehen für das Migrationsmanagement. Das heißt, dass man an der Küste von Tunesien besser überwachen kann, dass nicht so viele Menschen aus Tunesien kommen. Aber die Menschen werden ja von den tunesischen Autoritäten, vor allem Menschen aus Schwarzafrika, aus dem Sahel, die in Tunesien sind, herausgedrückt, fast herausgeekelt. Und was geschieht jetzt, bevor dieses Abkommen in Kraft ist? – Die haben ihre Handys und die hören die Nachrichten und sagen sich, wo das Abkommen nicht wirkt, versuchen wir jetzt, noch schnell fortzukommen. Das ist eine der Ursachen davon.

Stefan Heinlein: War es ein klarer Fehler von Brüssel, von der Europäischen Union, das Migrationsabkommen mit Tunesien anzukündigen, aber nicht, wie Sie sagen, sofort umzusetzen?

Jean Asselborn: Ja. Wir sind jetzt in einer Lage, wo zum Beispiel auch der europäische Ombudsmann sagt, dass die Bedingungen, wie das Geld nach Tunesien fließen soll, um Tunesien zu helfen, so sind, dass Tunesien auch die elementarsten Rechte der Migranten respektieren muss und auch die Rechtsstaatlichkeit respektieren muss, und diese Bedingungen müssen klar ausgehandelt werden mit Tunesien. Das wurde nicht gemacht, als dieses Abkommen unterschrieben wurde, und das ist jetzt ein Problem. 

Stefan Heinlein: Was halten Sie vor diesem Hintergrund – ich kann es fast schon ahnen – von dem Vorschlag der italienischen Ministerpräsidentin, nun Migrationsabkommen mit allen nordafrikanischen Staaten abzuschließen?

Jean Asselborn: Das wäre noch fataler. Wir haben ja jetzt gelernt hiervon. Wir müssen jetzt zwei Sachen schauen als Europäische Union, die Italiener und auch die Kommission und wir in Europa. Wir haben diesen Pakt, der viel kontestiert wurde, im Juni festgehalten. Wir müssen jetzt als 27 zusammen schauen, dass wir den umsetzen, und wenn wir diesen Pakt umsetzen, glaube ich, müssen wir zweitens auch schauen, wenn das einmal geschehen ist, dass wir mit den Drittstaaten nicht nur Abkommen machen über Migration, sondern breitere Abkommen, wo wir auch dann präzise legale Migration hineinbekommen. Wir haben schon 2015 in Valletta auf Malta den Afrikanern versprochen, dass wir legale Migration einbauen. Das ist aber nicht geschehen und darum hoffe ich, dass Länder noch die Möglichkeit haben, den Italienern direkt zu helfen. Aber mittelfristig muss der Schritt sein, dass wir zusammen noch bevor das Mandat dieser Kommission abläuft, also Mitte 2024, es hinbekommen, diesen Pakt umzusetzen und dann auch eine sehr breite Verhandlung führen mit den Drittstaaten. Das ist der einzige Weg. Alles andere, was man den Menschen vorgaukelt, das wurde ja auch in Italien gemacht, jetzt kommen wir an die Macht und die Migration ist fertig, das wird alles abgeschlossen, das geht nicht.

Stefan Heinlein: Herr Asselborn, die Kommissionspräsidentin hat ja auf Lampedusa nicht nur einen Punkt, sondern zehn Punkte vorgestellt. Wenn Sie jetzt alle zusammen nehmen, wie zufrieden sind Sie mit diesem Plan der EU-Kommissionspräsidentin?

Jean Asselborn: Dieser Plan ist ja ganz gut. Ich finde, das ist alles richtig, dass sie da war und dass sie auch europäische Länder auffordert zu helfen und dass sie die Prinzipien wiederholt. Aber leider ist es so, auch für eine Kommissionspräsidentin: Es ist der Ministerrat, der die Länder mitnimmt, um eine gemeinsame europäische Migrationspolitik hinzukriegen, mit der zuständigen Kommissarin, das ist Frau Johansson. Das ist die Regel in der Europäischen Union, dass es funktioniert. Ich habe ein wenig die Angst und ich will nicht die Kommissionspräsidentin oder Herrn Rutte oder Madame Meloni jetzt dahinstellen, dass sie etwas gegen Europa gemacht haben. Nein! Aber das war, glaube ich, nicht in die Tiefe nachgedacht. Wir können uns nicht nur konzentrieren und sagen, jetzt kommen viele Menschen aus einem Land wie Tunesien, mit Millionen, die wir zur Verfügung stellen, lösen wir das Problem. Und dann machen wir das auch mit allen anderen Ländern, dann ist das Problem gelöst. So einfach ist das nicht, so geht es nicht.

 

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