Interview mit Jean Asselborn in der WELT

"Ungarn unter Orbán bleibt ein Land, das wir in der EU mitzuschleppen haben"

Interview: DIE WELT (Christoph B. Schiltz)

WELT: Herr Minister, die Ukraine will lieber heute als morgen Mitglied von EU und Nato werden. Ist das realistisch?

Jean Asselborn: Natürlich sollte die Ukraine so schnell wie möglich der Europäischen Union und der Nato beitreten. Aber es gibt Fragen, die auch für den Westen neu sind: Kann ein Land, das sich in einem militärischen Konflikt befindet, die notwendigen Reformen für einen Beitritt überhaupt schaffen? EU und Nato sind nicht darauf ausgerichtet. Andererseits hat die Ukraine trotz Krieg bemerkenswerte Fortschritte gemacht, die Menschen haben eine ungeheure Kraft und sie setzen große Hoffnungen in die EU und in die Nato.

WELT: In Brüssel rechnet man damit, dass der Beschluss für die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine und Moldawien im Dezember fallen wird.

Jean Asselborn: Besser nicht mit Daten jonglieren. Das Schlimmste wäre, beitrittswilligen Ländern durch die Nennung irgendwelcher Daten Hoffnung zu machen, die sich dann am Ende nicht erfüllt – dies gilt speziell die Ukraine.

WELT: Halten Sie einen sogenannten eingefrorenen Konflikt, also einen Waffenstillstand ohne Friedensvertrag, für denkbar?

Jean Asselborn: Ein solcher eingefrorener Konflikt (‚frozen conflict') wäre ein schlimmes Szenario – erst recht, wenn er jahrelang dauert. Diesem Szenario muss die internationale Gemeinschaft sich widersetzen, denn es gäbe dann keine Sicherheit, weder für die Menschen in der Ukraine noch für ausländische Investoren und die Nachbarländer.

WELT: Das klingt alles nicht sehr optimistisch.

Jean Asselborn: Ich möchte nur auf die Probleme hinweisen, die entstehen, falls Putin sich als Präsident Russlands hält und den Konflikt weitertreibt.

WELT: Erwarten Sie das?

Jean Asselborn: Nein, ich glaube es nicht und hoffe auch nicht, dass Putin noch sehr lange an der Macht bleiben wird. Die Revolte der Wagner-Söldner vor zwei Wochen hat gezeigt, dass seine Omnipotenz gebrochen ist. Das System Putin hat tiefe Risse bekommen. Putin ist nicht mehr allmächtig.

WELT: Wer kommt nach Putin?

Jean Asselborn: Das weiß wohl keiner. Es sieht nicht danach aus, als ob das russische Volk dies demokratisch bestimmen könnte. Russland wird auf lange Sicht ein unkalkulierbares Land bleiben.

WELT: Themenwechsel, Herr Minister. Sie sind in Luxemburg auch für das Thema Migration zuständig. Wie verläuft die Debatte?

Jean Asselborn: Es gibt sehr viele Länder – viel mehr als zu Beginn der ersten Migrationswelle im Jahr 2015 – die auf eine Festung Europa setzen. Sie glauben, das Migrationsproblem mit Zäunen und Mauern lösen zu können. Wenn Sie als Journalist alle Debatten über Migrationsfragen im Rat der EU-Innenminister verfolgen könnten, würden Sie möglicherweise denken, das ist eine Filiale der AfD. Es gibt auch immer noch Staaten, die Schutzsuchende nach Ruanda bringen wollen, um dort ein Asylverfahren durchzuführen.

WELT: Die Niederlande und Österreich beispielsweise.

Jean Asselborn: Ich nenne keine Namen. Aber ohne den Einsatz der deutschen Regierung, und vor allem der Bundesinnenministerin Nancy Faeser, und ohne einige wenige andere EU-Staaten, hätten wir diese unsinnige Ruanda-Lösung beim letzten Treffen der EU-Innenminister am 8. Juni nicht vom Tisch bekommen.

WELT: Die EU-Innenminister haben sich auf eine verpflichtende Verteilung von Migranten und schnelle Asylverfahren an den Außengrenzen geeinigt. Ist das der große Durchbruch?

Jean Asselborn: Wir haben zumindest den Ansatz einer Lösung gefunden. Das war wichtig, wenn auch nicht bahnbrechend für eine solidarische europäische Asylpolitik. Aber ohne Kompromiss wäre das Schengen-System des freien Personen- und Warenverkehrs in 26 europäischen Staaten bald zusammengebrochen.

WELT: Polen und Ungarn haben beim letzten EU-Gipfel vor einer Woche erklärt, dass sie an einer Verteilung von Migranten nicht interessiert sind. Wäre es besser für Europa, wenn die Ministerpräsidenten dieser beiden Länder, Morawiecki und Orbán, nicht mehr länger am Tisch der EU sitzen würden?

Jean Asselborn: Aus der Sicht Ungarns sind die EU-Verträge ein Hemmschuh für Orbáns nationalistische und illiberale Thesen. Dies seit 2010. Schlimmer ist die Verkrampfung Polens, wenn es um Verantwortung und Solidarität in der europäischen Migrationspolitik geht. Dass Polen es anders kann, hat die massive Aufnahme von Flüchtlingen aus der Ukraine gezeigt. Klar wäre es einfacher, wenn in Polen, so wie vor Dezember 2015, eine Regierung im Amt wäre, die wüsste, dass Solidarität in dieser Frage nicht eine Option, sondern eine Obligation ist. Ungarn unter Orbán war und bleibt ein Land, das wir in der Europäischen Union mitzuschleppen haben, ohne dass es im Grunde zu uns gehören will.

WELT: Wo sehen Sie die Schwachpunkte der Asylbeschlüsse der EU-Innenminister?

Jean Asselborn: Erstens: Wir haben es nicht geschafft, Eltern mit Kindern von den Asyl-Schnellverfahren an den Außengrenzen auszunehmen. Ich hoffe, dass dies im Trilog mit dem Europa-Parlament noch korrigiert werden kann. Zweitens: Der größte Schwachpunkt des bisherigen Asylkompromisses ist die sogenannte flexible Solidarität. Ich fürchte, am Ende werden sich sehr viele Staaten einer Aufnahme von Flüchtlingen widersetzen und im Gegenzug lieber die vorgeschriebenen 20.000 Euro pro abgelehnten Flüchtling bezahlen. Das ist aus deren Sicht viel kostengünstiger und erspart politischen Ärger.

Die Ausgleichzahlungen für abgelehnte Flüchtlinge im Rahmen der Umverteilung hätten viel höher sein müssen, mindestens 30.000 Euro pro Person, so wie ursprünglich vorgeschlagen. Jetzt ist die Gefahr sehr groß, dass Länder an den EU-Außengrenzen, wie Italien oder Griechenland, die aufgenommenen Migranten nicht ausreichend weiter verteilen können, weil sie ihnen zu wenige Länder abnehmen.

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