Interview mit Jean Asselborn im Luxemburger Wort

"Wir stehen Luxemburgern zur Verfügung"

Interview: Luxemburger Wort (Michael Merten)

Luxemburger Wort: Jean Asselborn, über das Wochenende haben erst Amerikaner, dann weitere Staaten ihre Bürger gewarnt: Verlasst die Ukraine! Gilt dieser Rat auch für die Luxemburger? Und weiß man, wie viele Luxemburger sich in der Ukraine aufhalten?

Jean Asselborn: Wir haben keine Botschaft in der Ukraine, sondern werden für das Konsularische von Belgien und für das Diplomatische von den Niederländern vertreten. Der niederländische Außenminister hatte mich darüber informiert, dass sein Land eine solche Warnung ausgeben würde, deswegen haben wir und die Belgier uns angeschlossen. Am Samstag haben wir per Kommuniqué unsere Bürger aufgefordert, die Ukraine zu verlassen. Ich kann nicht sagen, wie viele Luxemburger jetzt noch in der Ukraine sind und wie viele dort leben. Aber es sind nicht viele. Luxemburger Bürgern und Firmen, die dort sind und unsere Hilfe brauchen, stehen wir natürlich zur Verfügung. Nach einer wochenlangen Zuspitzung der Krise gibt es nun die konkrete Warnung der USA, dass ein russischer Angriff auf die Ukraine unmittelbar bevorstehen könnte - angeblich schon am Mittwoch. Konkret ist gar nichts. Die Welt ist mit zwei Aussagen konfrontiert. Da sind einerseits die Amerikaner und ihre Geheimdienst-Aussagen, die vor einem unmittelbar bevorstehenden Krieg warnen. Diese Informationen setzen sie absichtlich in die Welt, was selten so gemacht wird; es gibt auch keine Ursache, den US-Geheimdiensten nicht zu glauben. Und zweitens ist da Moskau, das erklärt, dass es sich um eine Hysterie handelt und dass sie keine Intentionen haben, die Ukraine anzugreifen. Es ist auch als Außenminister, der die ganze Diplomatie mitgemacht hat, schwer, den Durchblick zu behalten... Wladimir Putin hat selbst feierlich in seiner großen Pressekonferenz gesagt, dass er sich nicht vorstellen kann, dass russische Soldaten auf ukrainische schießen. Die russische Armee ist eine der drei stärksten der Welt. Im Kriegsfall würden Tausende Menschen ihr Leben verlieren.

Luxemburger Wort: Was sind denn realistische Szenarien, auf die wir uns einstellen müssen?

Jean Asselborn: Ein Weg, der von Russland eingeschlagen werden könnte, wäre die beiden Regionen Donezk und Lugansk im Osten der Ukraine zu besetzen. Und dann käme das bekannte Szenario, so ähnlich, wie es auf der Krim war: Referendum, und dann Annexion. Das wäre aber vollkommen gegen internationales Recht. Das würde total gegen die Schlussakte von Helsinki von 1975 verstoßen, die Russland mit unterzeichnet hat. Da steht klar drin, dass die Grenzen unverrückbar sind. Die Sanktionen wären aber nicht mit denen der Krim vergleichbar, die wären viel drastischer. Und ich glaube nicht, dass Russland mit Vorteilen aus der Sache herausgehen würde. Putin ist niemand, der tut, was von ihm erwartet wird. Deshalb habe ich immer noch ein Quäntchen Hoffnung. Die Russen sind große Schachspieler, sie wissen, wenn ich einen Zug mache, dann hat das Konsequenzen für den zweiten und dritten Zug.

Luxemburger Wort: Schon unter Gorbatschow wurde den Russen mehrfach zugesagt, dass nicht vorgesehen ist, die NATO weiter nach Osteuropa auszudehnen. Ein Kernvorwurf der Russen ist nun, dass der Westen sich nicht an diese Versprechen gehalten hat. War das im Nachhinein betrachtet ein Fehler?

Jean Asselborn: In der Schlussakte von Helsinki, die die Sowjetunion mit verhandelt hat, steht ebenfalls, dass man seine Alliierten selbst wählen kann. Fest steht: Die NATO ist ein Defensivbündnis; sie ist dazu da, ihre Mitglieder im Angriffsfall zu verteidigen. Das Problem aus russischer Sicht ist vor allem ein möglicher Beitritt der Ukraine und von Georgien. Es gab diese berühmte Sitzung der NATO 2008 in Bukarest, wo ich selbst dabei war, das war noch unter Präsident George Bush. Damals hat man, um die Kuh vom Eis zu bekommen, gesagt: Im Prinzip sind wir einverstanden, dass die zwei Länder einmal Mitglied der NATO werden. Aber über den Zeitpunkt wird nicht jetzt entschieden. Dabei ist es geblieben. Wir hatten keine großen Debatten über die Einbeziehung der Ukraine in die NATO, das hat effektiv nicht stattgefunden.

Luxemburger Wort: Wie kann jetzt Bewegung in diese festgefahrene Situation kommen?

Jean Asselborn: Um eine Entspannung zwischen NATO und Russland hinzubekommen, wurde 1997 der NATO-Russland-Rat geschaffen. Als ich 2004 Außenminister wurde, hatten wir noch reguläre Sitzungen, an denen auch der russische Außenminister Lawrow teilnahm. Die Diskussionen waren manchmal sehr animiert, aber sie fanden immerhin statt. 2008 während der Krise in Georgien hat es ein paar Monate gedauert, doch dann ist der Rat wieder zusammengekommen. Extrem schwierig wurde es nach der Krim-Krise 2014. Es ist unheimlich schade, dass wir diesen NATO-Russland-Rat nur noch auf militärischer Ebene, aber nicht mehr auf politischer Ebene geführt haben. Es sind sehr viele Vorurteile im Spiel.

Luxemburger Wort: Und wie lassen sich diese Vorurteile überwinden?

Jean Asselborn: Man muss sich zusammensetzen und über die Sicherheitsarchitektur in Europa reden. Über die viel zu vielen Raketen, über Abrüstung, über vertrauensbildende Maßnahmen. Das geht nur, wenn man eine gewisse Vertrauensbasis aufbauen kann. Da ist leider viel verloren gegangen nach 2014 und müsste wieder aufgebaut werden. Joe Biden hat Putin im ersten Gespräch einen Dialog angeboten. Seit Dezember machen wir jetzt diese ganzen diplomatischen Anstrengungen. Von Anfang an war die Linie: Wir müssen eine Deeskalation hinbekommen.

Luxemburger Wort: Besteht noch Hoffnung für eine diplomatische Lösung?

Jean Asselborn: Diplomatie ist da, um Kriege zu verhindern. Wir müssen der russischen Seite klarmachen, dass wir aufrichtig darüber diskutieren wollen, was ihre Kritikpunkte sind, und wo wir wieder zusammenkommen können. Ich glaube aber, dass Moskau klar ist, dass es total unmöglich ist, eine Rückkehr auf die Linien von 97 zu fordern. Damals hat die NATO Polen und anderen osteuropäischen Staaten Beitrittsverhandlungen angeboten. Diplomatie bedeutet aber auch, Abschreckung zu zeigen, Sanktionen auf den Tisch zu legen. Daran wird auch gearbeitet. Diese systemischen Sanktionen sind für keine Seite gut. Das ist ein Werkzeug aus dem Diplomatiekasten, um das Schlimmste zu verhindern, nämlich Krieg.

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