Jean Asselborn au sujet de l'Union européenne et de ses défis

"Europa ist ein soziales Friedensprojekt"

Interview: Thomas Seifet

Wiener Zeitung: Im Buch des linken Ökonomen Thomas Piketty "Kapital im 21. Jahrhundert" finden sich Österreich und Luxemburg auf derselben Buchseite: Piketty kritisiert die Intransparenz beider Länder in puncto Austausch von Steuerdaten. Was sagen Sie als Sozialdemokrat dazu?

Jean Asselborn: Luxemburg hat, das muss man so sehen, vom Bankgeheimnis profitiert. Unser Bankenstandort war daraufhin ausgerichtet. Im September 2008 machte in den USA die Investment Bank Lehman Brothers Pleite und Europa wurde in die Finanzkrise gerissen. Danach kam der Katzenjammer und wir haben gespürt, dass wir unsere Mentalität ändern müssen. In Luxemburg haben wir bereits am 13. März 2009 den ersten Schritt gesetzt, wir haben erklärt, auf Anfrage Informationen an die Steuerbehörden weiterzugeben, wie es im Artikel 26 des OECD-Abkommens vorgesehen ist. Der zweite Schritt war, dass wir gemeinsam mit Österreich gesagt haben, okay, ab 1. Jänner 2015 wird dieser Informationsaustausch automatisiert. Wir haben aber auch ein gemeinsames Interesse: Wir wollen vermeiden, dass es zu Gunsten von nicht -europäischen Ländern zu einer Wettbewerbsverzerrung kommt. Luxemburg ist und bleibt ein bedeutender Finanzplatz. Das Land ist ja auch ursprünglich nicht als Bankenstandort reich geworden. Mein Großvater und mein Vater haben noch in der Stahlverhüttung gearbeitet. Eisen und Stahl haben den Wohlstand des Landes begründet. Als die Stahlproduktion in den 70er Jahren in die Krise geschlittert ist, ist der Bankenstandort gleichermaßen gewachsen.

Wiener Zeitung: Es gibt immer wieder Kritik an Luxemburg als Firmensitz multinationaler Unternehmen, die den Standort nutzen, um Steuern zu sparen.

Jean Asselborn: Auch hier gibt es mit 1. Jänner 2015 deutliche Änderungen. Aber ich glaube nicht, dass Steuervorteile der einzige Grund sind, warum sich Firmen in Luxemburg ansiedeln. Wien ist ja auch ein beliebter Standort für Headquarters und ich glaube, wie in Luxemburg gibt es ein ganzes Bündel an Gründen für die Ansiedlung. Es gibt eben in Luxemburg wie in Wien - gefragte Kompetenzen, sozialer Friede ist wohl ein weiterer Grund. Genauso wie die gute geografische Lage und Infrastruktur. Dann noch die vielen Sprachen, die wir in Luxemburg sprechen, und die Buntheit der Bevölkerung: 45 Prozent der Bürgerinnen und Bürger, die in unserem Land leben, stammen nicht aus Luxemburg.

Wiener Zeitung: Ihr Landsmann Jean-Claude Juncker soll vom Europaparlament als Kommissionspräsident bestätigt werden. Der britische Premier David Cameron lehnt ihn kategorisch ab. Wie wurde diese Kritik in Luxemburg aufgenommen?

Jean Asselborn: Die Kommission ist jene europäische Institution, die am wenigsten auf nationale Interessen fixiert ist - das passt nicht allen. Diese Kritik hätte also auch einen anderen treffen können. Vielleicht hätte es ein Kandidat oder eine Kandidatin aus einem größeren, mächtigeren Land aber einfacher gehabt. In Luxemburg kommen wir aber ganz gut mit den größeren europäischen Partnern zurecht und wir haben auch keinen Minderwertigkeitskomplex. Luxemburg ist ein durch und durch europäisches Land, unsere Chancen liegen in Europa, ohne die EU wären wir vielleicht kein souveräner Staat mehr. Juncker ist ein überzeugter Demokrat und das hat er in seiner Karriere bewiesen. Cameron ist ein überzeugter Brite und das hat wiederum er in seiner Karriere bewiesen. Europabewusstsein und Nationalbewusstsein unter einen Hut zu bringen, war schon zu Zeiten von Charles de Gaulle nicht gerade einfach. Aber ich würde diesen Konflikt nicht überbewerten: Die Union hat in ihrer Geschichte einmal mehr zusammengefunden und einmal weniger, ist einmal mehr auseinandergedriftet und einmal weniger. Am Ende wird bei den Briten Fair Play funktionieren. Wenn das Europaparlament Juncker bestätigt hat, dann wird sein Amt sicherlich keine leichte Aufgabe. Er muss mit einem Europaparlament zusammenarbeiten, in dem die Nationalisten, die Anti-Europäer sehr stark geworden sind.

Wiener Zeitung: Die europäischen Institutionen - Rat, Kommission, Parlament - haben in der Krise nicht gerade bella figura gemacht.

Jean Asselborn: Wir müssen unsere Mentalität verändern. Diese sture Fokussierung auf Haushaltsdisziplin bringt uns nicht weiter. Wir dürfen nicht vergessen, woran wir bei der europäischen Bevölkerung gemessen werden: Das geeinte Europa wurde als Friedensprojekt ersonnen. Heute werden wir als soziales Friedensprojekt gemessen. Die Menschen erwarten, dass Arbeitsplätze geschaffen werden. Und neue Arbeitsplätze gibt es nur, wenn man investiert.

Wiener Zeitung: Sie haben in der Krise Deutschland immer wieder kritisiert: Berlin sei austeritätsfixiert, meinten Sie. Die europäische Krisenbewältigungsstrategie ist tatsächlich nicht gerade ein berauschender Erfolg. Wurde mit der Sparpolitik die falsche Medizin verabreicht?

Jean Asselborn: Die Sache ist komplizierter, eine der Ursachen ist wohl auch, dass einige Länder, die in die Euro-Gruppe aufgenommen wurden, offenbar zur Überzeugung gelangt sind, dass Schuldenmachen keine negativen Konsequenzen hat. Das hat sich als falsch erwiesen und es musste gegengesteuert werden. Aber: Als die neue deutsche Regierung angetreten ist, habe ich gemeint, man sollte doch die Austeritäts-Peitsche einmal wegstecken. Ich habe damals auch darauf hingewiesen, dass in den Defizitländern Mercedes und Audi und VW gekauft worden sind. Deutschland ist unter anderem deshalb so stark geworden, weil andere Länder sich verschuldet haben und Waren aus Deutschland gekauft haben. Zudem sollten wir nicht vergessen, dass der Stabilitätspakt eben nicht bloß "Stabilitätspakt", sondern "Wachstums- und Stabilitätspakt" heißt. Leider wurde auf das Wachstum zu sehr vergessen.

Wiener Zeitung: Wie kommentieren Sie die deutschen Pläne zur Einführung einer Straßenmaut für Ausländer?

Jean Asselborn: Es steht mir nicht zu, als Luxemburger Außenminister deutsche Innenpolitik zu kommentieren.

Wiener Zeitung: Fahren Luxemburger nicht mit dem Auto nach Deutschland?

Jean Asselborn: Natürlich. Aber: Lassen Sie uns jetzt nicht vorschnell Schlussfolgerungen ziehen. Sehen wir uns an, wie Europa auf diese deutsche Debatte reagiert. Wie ich höre, ist das ein Vorschlag aus der CSU, der auch in der Koalition nicht unumstritten ist. Warten wir also mal ab, wie die Debatte abläuft.

Wiener Zeitung: Der italienische Premier Matteo Renzi hat zuletzt die "Wiederentdeckung der europäischen Seele" gefordert. Wie lautet Ihre Interpretation von Renzis Äußerung?

Jean Asselborn: Renzi hat bei den Europawahlen 41 Prozent erreicht - keine andere Volkspartei hat mehr geschafft. Er will Europa von diesem Image der alten Tante wegbringen und da hat er völlig recht. Und es geht darum, Europa als soziales Friedensprojekt zu definieren. Welche Alternativen bieten die Nationalisten? Die Front National in Frankreich meint, raus aus dem Euro, raus mit den Ausländern und - schwupps - ist die Wirtschaftskrise auch schon gelöst. An allen Problemen ist nach Meinung solcher Leute Brüssel schuld oder die Ausländer sind schuld. Aber wir sollten den Nationalismus und den Rechtspopulismus an der Wurzel packen: Menschen ohne Arbeit ist europäische Außenpolitik egal, ihnen ist Gesellschaftspolitik egal. Unser Auftrag lautet daher: Wir müssen die sozialen Probleme in Europa lösen.

Wiener Zeitung: Europa als Friedensprojekt: Wie passt da eine Ukraine, wo im Osten des Landes Krieg herrscht, ins Bild?

Jean Asselborn: Wir müssen Frieden und Stabilität in der Ukraine wiederherstellen. Also sollten wir den Friedensplan des ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko unterstützen. Das geht nicht gegen Russland, sondern nur mit Russland gemeinsam. Russland muss mithelfen, dass keine Waffen und keine grünen Männchen mehr über die Grenze in die Ukraine kommen. Russland muss auch wieder zum Respekt des internationalen Völkerrechts zurückkehren. Für uns Europäer ist es unwahrscheinlich wichtig, dass Russland sich den Weg zur Demokratie nicht selbst versperrt und dass das internationale Recht von Russland wieder ohne Abstriche respektiert wird. Wir teilen mit Russland einen Kontinent, Europa muss mit Russland zusammenleben.

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