Interview mit François Bausch im Luxemburger Wort

"Das ist Geschichtsverfälschung"

Interview: Luxemburger Wort ( Marc Schlammes)

Luxemburger Wort: François Bausch, der Historiker Daniele Ganser kritisiert die Waffenlieferungen an die Ukraine. Stattdessen plädiert er für Verhandlungen und eine Friedenslösung, selbst auf die Gefahr hin, dass die Ukraine danach "ein bisschen kleiner" und Russland "ein bisschen größer" ist.

François Bausch: Der Vergleich, den Daniele Ganser anstellt, hat mich schockiert.

Dass ein Krieg nur durch totale Vernichtung oder Verhandlung beendet werden kann, illustriert er am Beispiel von Hitler, dessen Krieg 60 Millionen Todesopfer forderte. Das würde im Umkehrschluss bedeuten, man hätte mit Hitler, dem größten Massenmörder und Hauptschuldigen der Konzentrationslager, verhandeln müssen. Das geht nicht. Gewiss, man soll Putin nicht mit Hitler vergleichen: Aber mit seinem militärischen Angriff auf die Ukraine hat Moskau einen bis dato geltenden völkerrechtlichen Konsens gebrochen und macht sich seitdem auch schwerer Kriegsverbrechen schuldig. Von daher dienen die Waffenlieferungen dazu, Kiew in eine Position der Stärke zu versetzen, um den Gegner an den Verhandlungstisch zu zwingen. Darum geht es.

Luxemburger Wort: Welche Bedingungen müssen denn erfüllt sein, damit ernsthafte Verhandlungen stattfinden können?

François Bausch: Verhandelt werden kann ab dem Moment, wo sich Russland zu einem Waffenstillstand bereit erklärt und sich aus den besetzten Gebieten zurückzieht. Die einseitige Annexion dieser ukrainischen Gebiete kann nicht hingenommen werden.

Luxemburger Wort: Ganser hat auch einen anderen Blick auf 2014, spricht bei den damaligen Maidan-Protesten von einem Putsch. Wie ordnen Sie dieses Narrativ ein, das der Historiker als Ausgangspunkt für den Ukraine-Krieg interpretiert?

François Bausch: Das ist Geschichtsverfälschung und eine "abenteuerliche" Darstellung. 2014 sollte die Ukraine einen Assoziierungsvertrag mit der Europäischen Union abschließen, den der damalige Präsident unter dem Druck von Moskau letztlich nicht unterzeichnete. Daraufhin folgten die Maidan-Proteste, die Flucht des Präsidenten und demokratische Wahlen, aus denen eine pro-europäische Regierung in Kiew hervorging. Deren wirtschaftliche Annäherung an die EU und die Tatsache, dass die Ukraine ein unabhängiger Staat ist, wollte Präsident Pu-tin nicht akzeptieren, weshalb er die russischen Minderheiten in den Grenzgebieten aufhetzte, unter anderem mit Waffenlieferungen. Von daher ist für mich auch die Gleichung von Ganser, dass sowohl Pu-tin als auch Obama und Biden "böse" sind, ein unmöglicher Vergleich. Man darf demokratisch gewählte Präsidenten nicht auf eine Ebene setzen mit einem Despoten.

Luxemburger Wort: Am Beispiel des Ukraine-Kriegs kritisiert Daniele Ganser auch die EU und ihre "blinde Gefolgschaft gegenüber dem amerikanischen Imperialismus". Inwieweit ist diese Kritik berechtigt?

François Bausch: Am Beispiel des Ukraine-Kriegs kann man doch sehr gut ablesen, wie die EU und ihre Mitglieder eigenständig handeln. So richtet die EU zurzeit eine eigene militärische Mission zur Unterstützung der ukrainischen Streitkräfte ein. Dennoch arbeitet die EU, aus guten Gründen, regelmäßig eng und solidarisch mit den USA zusammen. Und was den amerikanischen Imperialismus betrifft: Auch ich habe die USA in den 70er- und 80er-Jahren kritisiert für einen, in meinen Augen, blinden Anti-Kommunismus.

Es ist aber nie so weit gekommen, dass Washington ein anderes Land annektiert hat. Das ist doch das Grundproblem seit dem 24. Februar: Russland und Präsident Putin haben ein generell gültiges Prinzip der Nachkriegszeit gebrochen, einen unabhängigen Staat überfallen und sich Teile davon einverleibt.

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