Interview mit Jean Asselborn im Luxemburger Wort

"Es ist nicht der Moment zum Feiern"

Interview: Luxemburger Wort (Marc Hoscheid und Dani Schumacher)

Luxemburger Wort: Jean Asselborn, morgen ist Europatag. Ist Ihnen eigentlich zum Feiern zumute?

Jean Asselborn: Nein, es ist nicht der Moment zum Feiern. Wir haben in Luxemburg über 800 Corona-Tote und viele Patienten in den Krankenhäusern, auch auf den Intensivstationen. Wir sollten am 9. Mai auch daran denken, dass es den Menschen an vielen Orten in der Welt schlechter geht als in Europa. In Indien ersticken die Patienten auf den Parkplätzen vor den Krankenhäusern, weil sie keinen Sauerstoff bekommen. In Europasind 140 Millionen Menschengegen Corona geimpft, davon hat ein Viertel bereits die zweite Dosis erhalten. Wir müssen uns noch stärker bei der weltweiten Impfkampagne Covax engagieren. Die EU hat zwar bislang 2,5 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt und es sind 49 Millionen Impfdosen in über 100 Ländern ausgeliefertworden, aber bei fast acht Milliarden Menschen besteht noch Luft nach oben.

Luxemburger Wort: Während der Corona-Pandemie hat sich die Europäische Union nicht gerade mit Ruhm grenzüberschreitende Personennahverkehr wurde mehrfach eingeschränkt. Wie erklären Sie sich diese nationalistischen Reflexe?

Jean Asselborn: Mitte März 2020 herrschte in Europa Panikstimmung. Präsident Emmanuel Macron hat zwar von einem Krieg gegen das Virus gesprochen, aber Frankreich hat nie seine Grenzen geschlossen, die Grenzgänger konnten immer nach Luxemburg kommen. In Deutschland hat man zwar nicht von Krieg gesprochen, aber es wurde so gehandelt, als wäre Krieg. Es standen Polizisten mit Maschinengewehren an den Grenzen, als ob man das Virus mit Gewalt hätte zurückhalten können. Das war eine europapolitische Unmöglichkeit des größten Mitgliedslandes der EU. Es gab aber auch positive Ansätze. Bei der Behandlung der Kranken haben sich die EU-Staaten untereinander solidarisch gezeigt. Außerdem ging es plötzlich beim Haushalt bis2028 voran. Wir haben jetzt zudem Covid-Bonds, hier hat sich Deutschland solidarisch mit Ländern wie Frankreich oder Italiengezeigt.

Luxemburger Wort: Benötigt die EU angesichts der bisherigen Pandemiebekämpfung eine gemeinsame Gesundheitspolitik?

Jean Asselborn: Wir haben keine gemeinsame Gesundheitspolitik, weil das Sache der Nationalstaaten ist. Eine gemeinsame Gesundheitspolitikwäre zwar notwendig, reicht alleine aber nicht aus. Die EU mussdarüber hinaus bei der Produktion von Medikamenten und medizinischer Gerätschaften unabhängiger werden.

Luxemburger Wort: Am 1. Mai ist das seit Jahresanfang übergangsweise gültige Handelsabkommen zwischen der EU und Großbritannien definitiv in Kraft getreten, wie sieht die Zwischenbilanz aus? Sind die wirtschaftlichen Folgen so schlimm wie befürchtet?

Jean Asselborn: Beim Brexit gibt es keine Gewinner. Dieses Abkommen erschwert den Handel zwischen den beiden Partnern, statt ihn zu erleichtern. Im Januar und Februar ist das Exportvolumen von der EU nach Großbritannien um 20Prozent zurückgegangen, umgekehrt um 47 Prozent. Corona kann dabei natürlich eine Rolle gespielt haben, weil die Briten möglicherweise gehamstert haben. Wir müssen jetzt wieder Vertrauen aufbauen und zu einer neuen Normalität finden.

Luxemburger Wort: Wie bewerten Sie die rezenten Spannungen in Nordirland und Schottland?

Jean Asselborn: Die Situation in Nordirland ist kompliziert. Die DUP (Democratic Unionist Party, Anm.d.R.) war zwar für den Brexit, ist aber gegen das Handelsabkommen, wohingegen Sinn Féin, die für eine Wiedervereinigung Irlands kämpft, das Abkommen begrüßt. Diese Auseinandersetzung wird wohl noch bis zu den Wahlen in Nordirland im Mai 2022 andauern. Und da die SNP (Scottish National Party, Anm.d.R.) gestärkt aus den Regionalwahlen vom Donnerstaghervorgehen könnte, könnte es in Schottland erneut zu einem Unabhängigkeitsreferendum kommen. Der Brexit hat also durchaus das Potenzial, Großbritannien in seinen Grundfesten zu erschüttern.

Luxemburger Wort: In knapp einem Jahr sind in Frankreich Präsidentschaftswahlen, Marine Le Pen hat gute Chancen. Wäre ein Sieg Le Pens und ein möglicher Austritt Frankreichs aus der EU das Ende der Union?

Jean Asselborn: Marine Le Pen ist auf derselben Schiene unterwegs wie Salvini, Orbán, Wilders und die AfD. Wenn sie die Wahlen gewinnt, ist Europa, wie wir es kennen, am Ende. Die EU basiert nämlich auf Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten, Toleranz und dem Respekt von Minderheiten. Man muss höllisch aufpassen, denn der Stimmenunterschied in einemzweiten Wahlgang könnte ziemlich gering ausfallen. Le Pen gibt sich zwar zurückhaltender, was einen Austritt Frankreichs aus dem Euro oder der EU angeht, aber nicht mit Blick auf die Migration und die Minderheitenrechte. Der Front National versucht, den Menschen Angst vor Flüchtlingen zu machen, ähnlich wie die ADR dies in Luxemburg tut. Das ist eine extrem gefährliche Politik.

Luxemburger Wort: Ein schwieriges Verhältnis hat die EU derzeit mit der Türkei. Vor einigen Wochen kam es mit dem sogenannten Sofagate zu einem diplomatischen Eklat zwischen dem türkischen Präsidenten Erdogan, EU-Ratspräsident Charles Michel und EU-Kommissionschefin Ursula Von der Leyen...

Jean Asselborn: Über diese Sofageschichte ist alles gesagt. Darüber hinaus war die gesamte Inszenierung nicht in Ordnung. Es kam so rüber, als wären Michel und Von der Leyen als Bittsteller in die Türkei gekommen. Dabei steht Erdogan mit dem Rücken zur Wand, die türkische Lira hat enorm an Wert verloren, er braucht also die Union, um wirtschaftlich wieder auf die Beine zu kommen. Deswegen sollte die EU aus einer Position der Stärke heraus agieren. Angesichts der problematischen Menschenrechtslage in der Türkei sehe ich nicht ein, dass jetzt über Visafreiheiten für Geschäftsleute oder eine Zollunion verhandelt wird. Inder Türkei wird im Durchschnittjeden Tag eine Frau von ihrem Partner umgebracht. Der Schutz der Frauen ist in der Türkei dramatisch herabgesetzt worden.

Luxemburger Wort: Ist die EU aufgrund des Flüchtlingsdeals nicht durch die Türkei erpressbar?

Jean Asselborn: Es ist nicht die Schuld der Türkei, dass Europa keine gemeinsame Migrationspolitik hat. Wir hatten bei der großen Krise 2015 keine gemeinsame Politik und wir haben auch heute noch keine. Schuld daran ist die immer radikaler werdende Haltung der Visegrád-Staaten, hinter der sich immer mehr Länderverstecken. Deswegen bin ich froh, dass die katholische Kirche in Österreich rezent die Politik von Bundeskanzler Sebastian Kurz kritisiert hat. Werte wie Solidarität und Respekt dürfen nicht mit Füßen getreten werden, es kann nicht sein, dass EU-Staaten wegschauen, wenn im Mittelmeer Gerettete im Hafen in Malta ankommen. Es gibt ein Problem mit den Ländern an den EU-Außengrenzen, wo die meisten Flüchtlinge ankommen, beispielsweise mit Griechenland. Hier funktioniert die Integration nicht. Die Menschen erhalten zwar den Flüchtlingsstatus, aber nach sechs Wochen bekommen sie keine Hilfsleistungen mehr. Das führt dazu, dass sie sich auf den Weg in den Rest von Europa machen.

Luxemburger Wort: Auch wenn der Ärger über einige Staaten verständlich ist, muss die Frage erlaubt sein, was für ein Leben Flüchtlinge in einem Land erwartet, in dem sie eigentlich nicht willkommen sind.

Jean Asselborn: Das ist kein Argument! Wenn Menschen in einem europäischen Land leben, haben sie die gleichen Rechte, unabhängig davon, ob es sich um Flüchtlinge handelt oder nicht. Auch der oftmals angeführte Pull-Effekt ist kein Grund, die Aufnahme von Hilfesuchenden zu verweigern.

Luxemburger Wort: Welche Mittel hat die EU denn noch, um Staaten wie Polen oder Ungarn zur Räson zu bringen?

Jean Asselborn: Gar keine. Es gibt zwar Urteile des Europäischen Gerichtshofs, aber die EU-Kommission hat nicht gehandelt. Wegen der Corona-Krise steht das Thema auch nicht mehr oben auf der Prioritätenliste, obwohl gerade jetzt, angesichts der niedrigeren Flüchtlingszahlen, der geeignete Moment zum Handeln wäre.

Luxemburger Wort: Joe Biden ist seit gut 100 Tagen Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Hat sich das Verhältnis zwischen der EU und den USA seitdem wirklich verbessert oder hat sich nur der Tonfall im Vergleich zu Bidens Amtsvorgänger Donald Trump normalisiert?

Jean Asselborn: Der Ton ist definitiv wiedernormal geworden und die diplomatischen Kanäle sind wieder offen. Es ist auch wichtig, dass die Biden-Administration wieder in das Pariser Klimaabkommen und die Welthandelsorganisation eingetreten ist. Die USA gehen aber ihren eigenen Weg, beispielsweise in Afghanistan. Am 11. Septemberwird der letzte amerikanische Soldat das Land verlassen. Das bedeutet, dass sich der Rest der NATO zurückziehen muss.

Luxemburger Wort: Wäre es denn sinnvoller gewesen, weiter in Afghanistan zu bleiben?

Jean Asselborn: Ich weiß nicht, ob es sinnvoller wäre, aber wenn die Taliban wieder die Oberhand gewinnen, sind die Erfolge der vergangenen 20 Jahre, vor allem im Bereich der Frauenrechte, verloren. Ein anderes Problem im Verhältnis zu den USA ist die Gaspipeline Nord Stream 2. Wenn, wie in Deutschland, ein Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen wird, braucht man eine gewisse Übergangszeit, bis die erneuerbaren Energien im benötigten Ausmaß zur Verfügung stehen, dafür war das Gas aus Russland gedacht. Ich schätze, dass die Leitung fertiggestellt wird, aber das Gas wird erst fließen, wenn einige Unstimmigkeiten aus der Welt geschafft worden sind.

Luxemburger Wort: Sie sprechen Russland an. Wie sollte sich die EU gegenüber dem großen Nachbarn und der anderen Weltmacht China positionieren? Es ist stets ein Balanceakt zwischen engen Wirtschaftsbeziehungen und dem Pochen auf das Einhalten der Menschenrechte.

Jean Asselborn: In den nächsten 20 bis 30 Jahren wird es zwischen China und den USA einen Kampf um die Vormachtstellung in der Welt geben, vor allem in den Bereichen Militär und Wirtschaft. Für die EU ist China zwar ein wirtschaftlicher Partner, aber mit Blick auf das politische System ein Rivale. Bei der Auseinandersetzung zwischen China und den USA darf die EU nicht nur zuschauen, sondern muss sich einbringen, wofür es eine gemeinsame Position aller27 Mitgliedsstaaten braucht. Mit Blick auf die Beziehung zu Russland hat die Krim-Krise zu einem Bruch geführt, der noch nichtwieder gekittet werden konnte. Für Russland existiert die EU als Institution gar nicht mehr, es gibt nur noch Kontakte zu einzelnen Staaten. Wir sollten versuchen, einen Gipfel zu organisieren, um die Beschlüsse von Minsk umzusetzen und die Sanktionslogik zu durchbrechen. Das scheint momentan aber unmöglich.

Luxemburger Wort: Kommen wir noch einmal nach Luxemburg zurück. Kandidieren Sie 2023 erneut bei den Chamberwahlen und stehen Sie wieder für ein Ministeramt zur Verfügung?

Jean Asselborn: Ich habe schon mehrfach klargesagt, dass man sich als Minister erneut dem Wähler stellen muss, das werde ich auch tun. Den Rest werden wir sehen.

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