Interview mit Jean Asselborn im Tageblatt

"Trump stört, Ungarn blockiert"

Interview: Tageblatt (Eric Bonse)

Tageblatt: Die Welt ist in Aufruhr. China bedrängt Hongkong, in den USA gibt es Massendemonstrationen und Unruhen, Präsident Donald Trump droht dem eigenen Volk mit dem Militär. Doch von der EU hört man wenig.

Jean Asselborn: Das würde ich so nicht sagen. Bei Unserer letzten Videokonferenz am vergangenen Freitag haben wir als EU-Außenminister sehr ausführlich über die Lage in Hongkong und China gesprochen. Und wir haben auch eine gemeinsame Haltung festgelegt: An der Politik "ein Land zwei Systeme" und der Autonomie, die Hongkong genießt, darf sich nichts ändern, China muss das weiter garantieren. Das ist sehr wichtig.

Tageblatt: Und warum haben Sie zu den Vorgängen in den USA nach dem Tod von George Floyd geschwiegen?

Jean Asselborn: Bei unserem letzten Treffen waren die Konsequenzen noch nicht abzusehen. Das hat sich erst am Wochenende in seiner ganzen Dramatik gezeigt. Das heißt jedoch nicht, dass wir zu den Vorgängen schweigen. Aus meiner Sicht wäre es sehr gut, wenn US-Präsident Donald Trump jenseits von Twitter verstehen würde, dass Amerika nur dann wieder "great" werden kann, wenn der Rassismus klar verurteilt wird. Das Recht auf friedlichen Protest muss hundertprozentig garantiert werden. Ein Präsident ist nicht dafür da, die Kluft in der Gesellschaft zu vergrößern. Und er sollte auch endlich einsehen, dass die soziale Ungerechtigkeit in den USA eine tragende Ursache für den Aufstand ist. Die Situation ist sehr explosiv, sie kann nicht entschärft werden, wenn der Präsident die Kluft noch vergrößert.

Tageblatt: Warum hat es so lange gedauert, bis sich die EU zu der Krise in den USA geäußert hat?

Jean Asselborn: Wir sind nicht Russland, China oder die USA. In Brüssel gibt es keinen Knopf, den man einfach nur drücken kann, damit eine Erklärung herauskommt. Alles muss durch die europäischen Mühlen gehen ...

Tageblatt: ... und die mahlen sehr langsam. Ein weiteres Beispiel ist die Nahost-Krise. Israel bereitet die Annektierung der Westbank vor, doch die EU schaut zu.

Jean Asselborn: Nein, die EU-Außenminister haben schon am 15. Mai vier Stunden über die Nahost-Krise beraten. Danach haben wir eine ganz klare Position formuliert - die Annexion wäre ein Verstoß gegen das Völkerrecht - und Israel vor diesem Schritt gewarnt. Dass dem 25 von 27 EU-Staaten zugestimmt haben, ist schon ein Erfolg.

Tageblatt: Doch Ungarn und Österreich tragen die EU-Position nicht mit. Und Deutschland ist gegen Sanktionen. Ärgert Sie das?

Jean Asselborn: Außenminister Heiko Maas hat sich klar gegen eine Annexion ausgesprochen. Das Problem ist vor allem Ungarn, das systematisch jede Stellungnahme zum Friedensprozess blockiert. Das ist höchst bedauerlich, dass wir nicht mit einer Stimme sprechen können.

Tageblatt: Haben Sie Verständnis für die deutsche Haltung zu Israel?

Jean Asselborn: Deutschland trägt immer noch schwer an seiner historischen Last, ich kann die deutsche Haltung zu Israel nicht kritisieren. Allerdings möchte ich eins festhalten: Wenn man den italienischen Ex-Innenminister Matteo Salvini kritisiert, wie ich es getan habe, dann ist man kein Anti-Italiener. Und wenn man Benjamin Netanjahu kritisiert, dann ist man noch lange nicht gegen Israel oder gar ein Antisemit. Viele Israelis wollen eine Zwei-Staaten-Lösung, genau wie wir.

Tageblatt: Sind Sie persönlich für Sanktionen gegen Israel, falls es zur Annexion kommen sollte?

Jean Asselborn: Wir sollten jetzt nicht über Sanktionen reden, sondern alles tun, damit es nicht so weit kommt. Mir geht es auch darum, die EU in dieser Frage zusammenzuhalten. Bis 2016 hatten wir in der Nahost-Politik noch eine klare Position, dann kam Trump und hat alles infrage gestellt. Er übt auch negativen Einfluss auf einige EU-Staaten aus. Heute sind wir nicht mehr in der Lage, unsere Haltung auf ein Blatt Papier zu schreiben - dabei ist das Völkerrecht doch klar: Es geht um eine Zwei-Staaten-Lösung in den Grenzen von 1967 mit Jerusalem als Hauptstadt der zwei Staaten. Die EU hat die Pflicht, das internationale Recht zu verteidigen, das ist unser Kerngeschäft!

Tageblatt: War es das, was Sie mit Ihrem umstrittenen Vergleich mit der Krim meinten?

Jean Asselborn: Ja. Eine Annexion ist ein Raub von Territorium, das einem anderen Land gehört. Ich sehe da im Prinzip überhaupt keinen Unterschied zwischen der Krim und dem Westjordanland.

Tageblatt: Also müßte man doch auch über EU-Sanktionen gegen Israel sprechen?

Jean Asselborn: Der Krim-Vergleich sagt alles. Mehr möchte ich dazu nicht sagen.

Tageblatt: Der Außenbeauftragte Josep Borrell fordert, die EU müsse die "Sprache der Macht" lernen. Erleben wir nicht gerade Europas Ohnmacht?

Jean Asselborn: Wir sind keine Militärmacht, und wir werden es in absehbarer Zeit - in den nächsten Jahrzehnten - auch nicht werden. Aber wir können uns durchaus verteidigen, wie das Atomabkommen mit Iran gezeigt hat. Deshalb hat Iran keine Atombombe bauen können! Dasselbe gilt für Israel und Palästina: Unsere Macht beruht auf der Stärke des Völkerrechts. Die können wir allerdings nur ausüben, wenn wir eine gemeinsame Position haben - darum geht es.

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