Interview von Jean Asselborn mit der Aachener Zeitung

EU soll Druck auf Israel erhöhen

Interview: Aachener Zeitung (Thomas Thelen)


Aachener Zeitung: Herr Asselborn, Sie haben die mögliche Annexion von Palästinensergebieten durch Israel mit der Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 verglichen. Warum sorgt dieser Vergleich für Irritationen?

Jean Asselborn: Eine territoriale Annexion ist eine schwerwiegende Verletzung des internationalen Rechts, unabhängig davon, wo sie stattfindet. Sie verstößt gegen die fundamentalen Regeln der multilateralen Weltordnung, deren Förderung und Verteidigung quasi das Kerngeschäft der EU darstellt. Daher können wir eine Annexion aus Prinzip nicht akzeptieren. Das haben wir bei der illegalen Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 gezeigt, und das müssten wir auch im Fall der Annexion des Jordantals zeigen. Es geht um unsere Glaubwürdigkeit. Ich stelle fest, dass fast alle meine Kollegen in der Europäischen Union diese Ansicht teilen, auch wenn nicht jeder den Vergleich mit der Krim macht. Bei unserer Videokonferenz am Freitag haben mehrere Ministerkollegen darauf gepocht, dass wir als EU unseren Prinzipien treu bleiben und folglich eine Annexion nicht hinnehmen sollen.

Aachener Zeitung: Mal abgesehen von dem Vergleich: In der Sache sind Sie sich mit dem deutschen Außenminister Heiko Maas und den anderen EU-Kollegen einig. Eine Annexion wäre nicht akzeptabel.

Jean Asselborn: Ja, das stimmt. Es gibt diesbezüglich einen Grundkonsens in der EU.

Aachener Zeitung: Der deutsche Außenminister hat betont, man sei mit den Konfliktparteien im Nahen Osten im Gespräch. Ist das so? Und glauben Sie, dass man so genug Einfluss auf die Konfliktparteien nehmen kann?

Jean Asselborn: Wir sind uns einig, dass wir in den kommenden Monaten alle möglichen Kommunikationskanäle nutzen müssen, um, so weit es geht, Einfluss auf die Parteien zu nehmen. Es geht hierbei natürlich zuerst um Israel und Palästina. Wir stehen mit den Palästinensern im Kontakt. So habe ich kürzlich mit Chefunterhändler Saeb Erekat gesprochen. Der Hohe Vertreter der EU, Josep Borrell, soll in den kommenden Tagen mit dem neuen Außenminister Israels, Gabi Ashkenazi, das Gespräch suchen. Es geht aber auch um die USA und die arabischen Nachbarn Israels, wie Jordanien und Ägypten.

Aachener Zeitung: Wird die EU als Vermittler in diesem Konflikt ernstgenommen?

Jean Asselborn: Über Jahrzehnte hinweg hat die EU sich den Ruf als „ehrlicher Vermittler" im Friedensprozess und als Freund und Partner sowohl Israels als auch Palästinas hart erarbeitet. Daher bin ich davon überzeugt, dass es ernstgenommen wird, wenn wir zur Zurückhaltung aufrufen. Aber man darf sich nichts vormachen: Die Gefahr einer Annexion ist akut. Wir dürfen keine Zeit verlieren.

Warum hat man dennoch den Eindruck, dass die EU es nicht schafft, mit einer Stimme zu sprechen?

Jean Asselborn: Wie Sie wissen, bedarf es der Einstimmigkeit innerhalb der EU in außenpolitischen Fragen. Zwischen den Mitgliedsstaaten hat es immer verschiedene Ansichten und Sensibiitäten gegeben, was den Friedensprozess im Nahen Osten anbelangt. Trotzdem haben wir es immer geschafft, uns auf eine Grundposition zu einigen und diese auch aktiv zu kommunizieren, zu fördern und zu verteidigen: Wir unterstützen die Zwei-Staaten-Lösung, nach der Israel und Palästina als zwei Staaten Seite an Seite in Frieden und Sicherheit koexistieren, auf der Basis der Grenzen des 4. Juni 1967, mit Jerusalem als Hauptstadt beider Staaten. Dieser internationale Konsens wurde nicht zuletzt vom UN-Sicherheitsrat in der Resolution 2334 von Dezember 2016 bestätigt. Seit dem Jahr 2017 werden diese Grundsätze jedoch immer stärker untergraben, allen voran von Herrn Trump. Seitdem ist es auch innerhalb der EU extrem schwierig, gar unmöglich geworden, mit einer Stimme zu sprechen.

Aachener Zeitung: US-Außenminister Mike Pompeo hat Israel jüngst grünes Licht für eine Annexion von Teilen des Westjordanlands gegeben. Glauben Sie tatsächlich, dass Premier Netanjahu den Schritt wagt?

Jean Asselborn: Ich kann die Gedanken von Premierminister Netanjahu nicht lesen. Aber wenn man sich das Koalitionsabkommen der neuen israelischen Regierung ansieht, dann wird deutlich, dass die Verantwortung für die Annexion nun alleine bei Herrn Netanjahu liegt. Kein anderer Minister und auch keine parlamentarische Kommission kann den Prozess aufhalten. Bei seinem Besuch in Jerusalem vergangenen Mittwoch hat US-Außenminister Mike Pompeo es vermieden, öffentlich zur Annexion Stellung zu nehmen. Ein grünes Licht sieht meiner Meinung nach anders aus.Allerdings muss man sich auch verdeutlichen, dass die Annexion nicht in einem „Schritt" umgesetzt werden kann. Auch für Israel würde dies einen erheblichen bürokratischen und administrativen Aufwand bedeuten, der sich wohl über eine längere Zeit hinziehen würde.Genau hier liegt die Gefahr: Indem die Annexion schleichend vorangeht, wird der internationalen Empörung die Luft aus den Segeln genommen. Daher ist es umso wichtiger, dass die EU jetzt der israelischen Regierung in aller Klarheit ihre Grundposition gegen jede Art von Annexion mitteilt.

Aachener Zeitung: Für den Fall, dass es zu einer Annexion kommt, fordern Sie - wie im Fall der Krim und Russland - Sanktionen gegen Israel. Gibt es für Sanktionen eine Mehrheit in der EU oder steht in dem Fall wieder zu befürchten, dass es kein klares, einheitliches Votum geben wird?

Jean Asselborn: Es ist zu früh, um über Sanktionen zu diskutieren. Wir hoffen ja und arbeiten mit aller diplomatischen Energie daran, dass es nicht zu einer Annexion kommen wird. Wir setzen auf Prävention.

Aachener ZeitungSie haben erneut betont, dass die beste Lösung für den Konflikt eine Zwei-Staaten-Lösung sei. Wenn aber Israel einfach Gebiete annektiere, sei diese Lösung kaputt. Und dann?

Jean Asselborn: Dann befürchte ich, dass es zu einer Situation kommt, wo es nur einen Staat gibt, mit ungleichen Rechten und ständigem Konflikt.Darüber hinaus wären die Sicherheitsfolgen für die Region verheerend.

Aachener Zeitung: Glauben Sie, dass es jemals eine Lösung in diesem Konflikt geben wird?

Jean Asselborn: Die einzige gerechte Lösung ist die Zwei-Staaten-Lösung, auf Basis der Grenzen des 4. Juni 1967. Diese Lösung werde ich auch weiterhin verteidigen. Allerdings sind wir gefährlich nahe an einem Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt. Die Zwei-Staaten-Lösungwird untergraben, nicht erst seit der Ankündigung des amerikanischen „Jahrhundertdeals" oder der israelischen Annexionspläne, sondern seit etlichen Jahren durch die illegale Siedlungspolitik Israels, welche Zerstörungen, Beschlagnahmungen und gezwungene Umsiedlungen beinhaltet. All dies sind schwerwiegende Verstöße gegen das internationale Recht, insbesondere die Vierte Genfer Konvention.

Aachener Zeitung: Das klingt wenig hoffnungsvoll.

Jean Asselborn: Trotz aller Besorgnis glaube ich daran, dass es eine Lösung in diesem Konflikt geben kann. Dafür setzen sich auch weite Teile der Zivilgesellschaft ein — sowohl in Israel als auch in Palästina. Die Friedensbewegung ist nicht am Ende.

Zum letzten Mal aktualisiert am