Interview von Jean Asselborn im KURIER

"Migration oder Corona - wir haben jedes Mal eine Solidaritätskrise"

Interview: KURIER (Ingrid Steiner Gashi)

KURIER: Sie appellieren dafür, dass sich die anderen EU-Staaten diesem Beispiel anschließen. Was lässt Sie hoffen, Gehör zu finden?

Jean Asselborn: Wir haben eine Chance, dass Portugal, Irland, Finnland und vielleicht Frankreich mitziehen, eventuell auch Belgien, Bulgarien, Kroatien und Litauen. Das wären zusammen mit Deutschland zehn Länder. Das Ziel war: Wenn jedes Mitgliedsland zehn jugendliche Migranten pro halbe Million Einwohner aufnehmen würde, wäre das Problem gelöst. Schon bisher gelang es in der EU nicht, eine gemeinsame Antwort auf die Flüchtlingsfrage zu finden.

KURIER: Warum sollte das jetzt, mitten in der Corona-Krise, möglich sein?

Jean Asselborn: Es liegt nicht an der Europäischen Union als solcher, sondern an den einzelnen Mitgliedsstaaten. Das war 2015 eine Minderheit, und es werden jetzt immer mehr. Sie haben eine beispiellose, verfahrene Politik in Sachen Verantwortung und Solidarität in der Migrationsfrage abgegeben. Die Migrationszahlen sind jetzt sehr klein, und man könnte jetzt eine objektive, gut durchdachte Entscheidung treffen oder zumindest vorbereiten, auch trotz Corona. Aber wie in der Migration haben die europäischen Länder auch bei Corona reagiert: Man sieht, wie hier alles durcheinandergeht, vor allem an den Grenzen, die Staus... Und das muss ich noch dazu sagen: Es war auch wenig konstruktiv von Wien und Budapest, als wir über die "Operation Irini" redeten (EU-Mission vor der Küste Libyens). Wien und Budapest haben zusammengespielt - zwei Länder, die keine Schiffe und Häfen dort haben. Das gibt nicht viel Hoffnung, dass es besser wird.

KURIER: Österreich sagt Nein zur Aufnahme unbegleiteter Jugendlicher, schickt aber 181 Container. Ist das auch eine Form der Solidarität?

Jean Asselborn: Container auf die Inseln oder nach Athen schicken? Das heißt doch: Bleibt schön dort, wo ihr seid! Das ist nicht die Botschaft, die wir schicken sollten. Bundeskanzler Kurz hat in den vergangenen zwei, drei Jahren einen richtigen Grenzschutzfetischismus aufgebaut. Aber hier geht es um Menschen, die in Europa sind. Und es gibt keinen Grenzschützer in Europa, der sie einfach wieder hinaussetzen kann. Schließen wir also die Augen und lassen wir sie in dieser Situation auf diesen Müllhaufen in den Lagern darben? Oder machen wir, was wir tun können, tun müssen, wenn man noch ein humanistisches Bild hat in Europa, nämlich helfen? Helfen wir den Griechen, dass diese Lager verschwinden und dass die Menschen auf das Festland kommen? Wer das Recht auf Asyl bekommt, wird verteilt in Europa, das wäre auch kein großes Problem. Und die anderen muss man in aller Würde in ihre Länder zurückführen. Das wäre die Lösung, die man jetzt anstreben müsste. Zu wünschen wäre auch die Annahme des europäischen Asylpaketes, das schon 2016 von der EU-Kommission auf den Tisch gelegt wurde. Das hieße, dass nicht die Außengrenzenstaaten in Krisensituationen die ganze Last auf ihren Schultern tragen müssten und man ein System an Quoten aufbaut, wo Solidarität und Verantwortung in der EU verteilt wird. Das geht nicht anders.

KURIER: Reicht es, wenn man wie Ungarn Geld gibt für die Unterstützung der Grenzschützer in Marokko?

Jean Asselborn: Nein, das reicht nicht. Wir brauchen eine Gesamtstrategie.

KURIER: Österreich lehnt die Aufnahme auch mit dem Argument des Pullfaktors ab: Nimmt man Flüchtlinge auf, kommen immer mehr nach. Ist dieses Argument denn völlig falsch?

Jean Asselborn: Das beste Mittel gegen den Pullfaktor ist, wenn man die Menschen im Meer ertrinken lassen würde — das wäre ein unübertreffliches Abschreckungssignal. Wenn Länder in der EU so etwas im Kopf haben, sind das aber keine Länder mehr, die die Werte der EU vertreten. Also, das geht nicht! Aber ich finde, dass wir 2020 viel weiter entfernt sind von der Angst, die wir 2015 noch hatten, wo Ertrinken lassen oder sich nicht Kümmern für kein Land eine Option war. Heute hat man den Eindruck, dass das kippt. Der Pullfaktor ist verständlich: Holt man Menschen von den Inseln, kommen neue dazu. Aber das kann wohl nicht die ganze Strategie sein, dass für einzelne Länder nur der Pullfaktor zählt. Luxemburg hat seit Monaten bei jedem Schiff mitgeholfen, die aus dem Mittelmeer geretteten Menschen aufzunehmen. Deutschland und Frankreich sind auch noch nicht untergegangen. Kein europäisches Land wird an der Last zerbrechen, wenn die paar tausend aus dem Meer geretteten Menschen verteilt werden und man solidarisch mit anpacken würde.

KURIER: Ist mangelnde Solidarität eine Sollbruchstelle im Zusammenhalt der EU? Nicht nur in der Flüchtlingsfrage, sondern auch jetzt in der Coronakrise?

Jean Asselborn: Ob Finanz- oder Migrations-oder Corona-Krise, jedes Mal haben wir eine Solidaritätskrise. Weniger in Institutionen, als in den Mitgliedsstaaten. Wenn wir in den nationalen Krämergeist nicht überwinden, dann geht es schief. Die Menschen verstehen nicht, wenn wir jetzt Lösungen finden, wo Ungarn mehr profitiert als Italien. Das versteht keiner mehr. Länder, die die Rechtsstaatlichkeit mit Füßen treten, auch noch die großen Gewinner sind. Die Finanztransfers kommen ja von den Ländern, die zur EU stehen. Tatsächlich haben wir in Sachen Migration und Rechtsstaatlichkeit ein Problem zwischen Ost und West. Und was die Finanzfragen angeht, haben wir ein Problem zwischen dem Norden und Süden. Die Politik der Europäischen Union müsste eigentlich sein, diese Differenzen abzubauen. Aber hier in der Finanzfrage hat man manchmal den Eindruck, als ob wir in der Volksschule wären: Wenn der eine Bonds sagt; versteht der andere Troika. Wir haben doch so viele vernünftige Finanzinstrumente auf dem Tisch liegen: Die Anstrengungen der Europäischen Zentralbank, die Aussetzung der Maastricht-Kriterien, die 100 Milliarden Euro für Kurzarbeit, den ESM und die Europäischen Investitionsbank. Das Wichtigste ist es jetzt, sich zusammenzuraufen und wenn man noch diese Woche beim Europäischen Rat einen Europäischen Wiederaufbaufonds hinkriegen könnte. Besonders für Investitionen, für Spanien und Italien, also für jene Länder, die sehr viel gelitten haben.

KURIER: Muss auch das nächste EU-Budget erhöht werden?

Jean Asselborn: Im Grunde müsste man jetzt ein Budget bauen, das viel größer ist als ein Prozent der Wirtschaftskraft der 27 EU-Staaten. Dann könnte man die Krise mit dem Geldpotenzial meistern, das man im Budget fixiert. Das wäre das Logischste. Wenn wir als EU ein Staat wären, würden wir das ja so meistern. Warum ist das alles unmöglich? Immer dieses Misstrauen der einen gegen die anderen, das kann noch viel schlimmer werden als das Misstrauen in der Migrationsfrage oder bei der Rechtsstaatlichkeit. Wir sind hier an einem Wendepunkt, ob wir das zusammenbekommen in der Europäischen Union. Dabei ist die EU in ihrer Essenz, in ihrem Geist, eigentlich ganz einfach: Man baut eine politische Gemeinschaft auf, um all die Probleme zu lösen, die ein einzelner Staat nicht lösen kann.

KURIER: Bisher galt doch: An Krisen ist die EU noch immer gewachsen?

Jean Asselborn: Sehen Sie: Wir in Luxemburg haben in der Coronakrise schlechte Erfahrungen gemacht — mit geschlossenen Grenzen, die nicht zu sein müssten. Wir haben aber auch gute Erfahrungen erlebt. Es sind Schwerkranke aus Ostfrankreich nach Luxemburg gekommen. Es gibt das Europa des menschlichen Gefühls, das besser funktioniert als das manchmal sehr kalte, institutionelle Europa. So lange das funktioniert, haben wir Grund zur Hoffnung. Wir haben auch den Brexit gut überstanden, kein Land ist dem britischen Beispiel gefolgt. Aber jetzt, in diesen Fragen, Migration, Finanzen und in der Corona-Krise, da müssen wir aufpassen, dass wir nicht definitiv Schritte in die falsche Richtung setzen.

Zum letzten Mal aktualisiert am