Interview von Jean Asselborn mit FOCUS online

"Sind Kollateralschaden geworden"

Interview: FOCUS Online (Lukas Ferring)

FOCUS Online: Sie sind in Luxemburg als Land zwischen Deutschland, Frankreich und Belgien gerade

besonders betroffen durch die politischen Entwicklungen rund um Corona – Grenzen wurden geschlossen, viele Länder – auch Deutschland - haben eigenmächtig gehandelt. Wie haben Sie diese Entscheidung aufgenommen?

Jean Asselborn: Wir sind eine Region hier um Luxemburg, wo Europa zusammengewachsen ist an den Grenzen mit Deutschland, Frankreich und Belgien. Wir sind – ohne zu übertreiben – eine europäische Modellregion. Die EU hat am 25. Jahrestag des Schengener Vertrags die Entscheidung getroffen, dass die Außengrenzen des Schengenraums wegen der Coronakrise geschlossen werden. Mit dieser Maßnahme sollte aber auch eine Gegenmaßnahme greifen - nämlich, dass die Binnengrenzen im Schengenraum offenbleiben. Ich verstehe, dass sich verschiedene Regionen abschirmen wollten von Krisengebieten wie dem Elsass. Aber wir als Luxemburg sind eine Art Kollateralschaden geworden nach der Reaktion aus Berlin. Die Grenzen wurden zugemacht. Das hat uns sehr überrascht und auch enttäuscht, dass wir die Tür zugeschlagen bekommen haben und auch keine überzeugende Argumentation dazu gehört haben.

FOCUS Online: Was bedeuten die Grenzschließungen für die Versorgung eines Landes wie Luxemburg ganz konkret?

Jean Asselborn: Das ist wirklich ein großer Einschnitt in das Zusammenleben in der Grenzregion. Wir haben nach den geschaffenen Tatsachen versucht, alles anzustrengen, dass wir im Nordosten unseres Landes noch Grenzen haben, die offenbleiben. Denn viele Menschen – und da kommen wir zu den Grenzgängern aus Deutschland, Frankreich oder Belgien – die bei uns arbeiten, überqueren die Grenze täglich. Es sind 200.000 insgesamt. Die Frage der Pendler ist für uns ganz besonders eine außergewöhnliche Situation. In unseren Krankenhäusern und im Gesundheitswesen arbeiten 57 Prozent Menschen, die in der Grenzregion wohnen. Und wenn dann die Krankenhäuser deshalb nicht mehr funktionieren, dann haben wir ein existentielles Problem. Die Entscheidung, die Grenzen zu schließen wurde Sonntagabend getroffen und wir mussten bis den darauffolgenden Montag schnell eine Lösung finden.

FOCUS Online: Wie wirkt sich das im alltäglichen Leben in Luxemburg aus? Was macht eine geschlossene Grenze mit dem Alltag?

Jean Asselborn: Viele kleine Grenzübergänge wurden einfach geschlossen. Grenzen, wo das normale Leben stattfindet. Die Autobahnen blieben offen – mit Kontrollen der Grenzbrücken. Kleinere Grenzübergänge an den Brücken wurden einfach geschlossen. Fazit: Die Bauern haben manchmal kilometerlange Umwege zu fahren, um auf ihre Felder zu kommen und das normale Leben der Menschen diesseits und jenseits der Brücke ist eingeschränkt. Das sind Einschnitte, bei denen man sich fragt, warum das wirklich notwendig im Kampf gegen das Virus ist. Wir sind europäisch zusammengewachsen und das kann kein Fehler sein. Selbst im Ort Schengen, an dem vor 25 Jahren die Freizügigkeit in Europa Wirklichkeit wurde, wird wieder kontrolliert. Und man weiß nicht, warum. Im Kampf gegen Corona wurden hier leichtfertig europäische Selbstverständlichkeiten durch nationale Tatsachenentscheidungen ausgehebelt.

FOCUS Online: Man hat das Gefühl, dass Brüssel zu lange zu still war gegenüber den Mitgliedsstaaten. Und auch jetzt erscheint keine gemeinsame Linie deutlich zu werden. In welche Richtung muss Europa in der Corona-Krise steuern und was muss in der europäischen Hauptstadt geschehen?

Jean Asselborn: Die Europäische Gesundheitspolitik ist in erster Linie Verantwortung der Mitgliedsstaaten. Die EU kann da nur ergänzend agieren. Und das ist aktuell extrem schwierig. Ich habe einige Krisen miterlebt in der Union – Finanzkrise, Migrationskrise und jetzt die Coronaviruskrise. Meines Erachtens ist es unerlässlich, dass wir nicht nur für die Menschen der sehr schwer betroffenen Länder, sondern auch für uns alle zeigen, dass dieses Europa ja gegründet wurde, um gemeinschaftlich das zu schultern, was man allein als einzelne Nation nicht zu Stande bringt. Deswegen glaube ich, dass wir jetzt in einer entscheidenden Phase sind für die Zukunft Europas. Europa stand immer für Frieden und die Absicht, dass es nie wieder zu schlimmen Kriegen und Krisen kommen sollte. Krisen werden verhindert, indem man den Rechtstaat, seine Werte und die Solidarität beachtet.

FOCUS Online: Unter Solidarität fallen auch die von einigen Staaten geforderten sogenannten Corona-Bonds. Mehrere Staaten – darunter auch Deutschland – lehnen diese aber ab. Wie sollte man hier jetzt vorgehen?

Jean Asselborn: Ich kenne seit der Finanzkrise das Wort "Bonds". Wir wissen, dass in Spanien, in Italien aber auch Frankreich eine Krise herrscht, die nicht asymmetrisch ist, sondern eine Krise, die jedes Land in der Union gleichermaßen betrifft. Das ist etwas ganz anderes als die Finanzkrise damals. Die europäische Zentralbank hat jetzt 750 Milliarden ausgelobt und ich kann mir auch vorstellen, dass das auch ein guter Rahmen ist. Aber wenn die Europäische Union beziehungsweise ihre Mitgliedsländer keine europäischen Mittel und Garantien für die Länder zur Verfügung stellen, die stark jetzt unter Druck sind und Arbeitslosenquoten von dreißig oder vierzig Prozent riskieren – dann ist dieses Europa der Bürger gebrochen.

FOCUS Online: Würden Sie den europäischen Zusammenhalt wirklich davon abhängig sehen?

Jean Asselborn: Hier geht es um die Existenz der Europäischen Union in der Zukunft. Jetzt kann man diskutieren, "wer ist mehr Schuld oder wer hat wie gehandelt?'" – aber es ist eine Krise, die ganz Europa an vielen Orten in eine schlimme Situation bringt. Und deswegen dürfen wir jetzt nicht wieder eine Debatte über Begriffe wie Euro- oder Corona-Bonds führen. Diese Worte sind auch zu negativ behaftet aus Zeiten der Finanzkrise. Sondern es geht darum, dass wir mit europäischen Mitteln Garantien zur Verfügung stellen können, damit jedes der gebeutelten Länder auch konkret davon profitieren kann, um wieder auf die Beine zu kommen. Wenn das nicht geschieht, dann brauchen wir keine Nationalisten, die Europa kaputt machen. Denn dann machen wir uns selbst kaputt.

FOCUS Online: Wie wird Europa nach der Krise aussehen? Werden die Grenzen wieder geöffnet sein wie vorher? Oder werden gewisse Staaten die Situation nutzen und sich weigern, die Grenzen wieder aufzumachen?

Jean Asselborn: Stirbt Schengen, stirbt Europa – die europäische Seele! Das ist für mich ganz klar. Der Schengen-Raum ist wie der Euro etwas, wofür wir weltweit beneidet werden. Dass man durch so viele Länder reisen kann – das ist einmalig auf der Welt. Das dürfen wir uns nicht kaputt machen! Dann zerfällt das Europa der Bürger. Wir sind uns alle einig, dass wir nie wieder Krieg in Europa haben wollen. Aber es sind nicht Verträge, die eine Versicherung gegen Kriege sind, sondern wie wir Europäer in dieser Union leben und wie wir sie verstehen. Mit der Demokratie, mit den Werten, mit dem Respekt vor dem Andersdenkenden und der Rechtsstaatlichkeit.

FOCUS Online: Auf den Balkonen Europas stimmen die Bürger in Italien wie Deutschland die Europahymne an. Aber in den Präsidentenpalästen ist das nicht so recht angekommen.

Jean Asselborn: In dieser Situation singt keiner ein Lied auf Le Pen, Salvini oder Orban. Um aus der aktuellen Krise herauszukommen, sinnen die Leute nach Europa, nach Europäischer Solidarität. Und deswegen ist es auch so wichtig, dass wir den Ländern, die jetzt besonders gebeutelt sind, unter die Arme greifen. Die Solidarität muss jetzt passieren – jetzt gebündelt werden! Man muss den Menschen, die das Europalied singen, eine Antwort geben – eine konkret europäische. Sonst werden sie Europa nicht mehr besingen.

FOCUS Online: Was kann die Europäische Union aus dieser Krise für die Zukunft mitnehmen? Muss Europa in Sachen Krisen- und Katastrophenmanagement anders aufgestellt werden?

Jean Asselborn: Ich glaube, in der jetzigen Zeit sollten wir den Menschen erst einmal Zuversicht geben, dass wir es schaffen mit allen Maßnahmen, die getroffen und notwendig sind, diese Krise zu überwinden. Jetzt schon in die Details für die Zukunft zu gehen, ist wahrscheinlich zu früh – das wird die Zeit zeigen. Aber jetzt müssen wir den Bürgern zeigen, wofür Europa steht und dass sie sich auch trauen, Europa zu wagen und zu leben.

FOCUS Online: Haben Sie einen Appell an Deutschland?

Jean Asselborn: Es leuchtet mir – auch in Zeiten Coronas - nicht ein, warum an den innereuropäischen Grenzen wieder Grenzbeamte stehen und den Schlagbaum bewachen. Dass wir den Tourismus einschränken müssen aktuell, ist vollkommen klar. Aber dass wir Dinge dadurch kaputt machen, die wir uns jahrelang aufgebaut haben – der Arzt, der seine Praxis im anderen Land führt oder der Bauer, der jetzt einen riesigen Umweg machen muss, um auf seine Felder zu kommen – das ist einfach nicht europäisch. Deutschland ist die stärkste Lokomotive in guten Zeiten, es muss auch die stärkste sein in schlechten Zeiten. Die Balance zwischen "Nehmen" und "Geben" sollte das wichtigste Land in der EU auf der Zeitschiene richtig sehen.

 

 

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