Interview von Jean Asselborn im Mindener Tageblatt

"Nationalistische Ziele der Türkei"

Interview: Mindener Tageblatt (Ulrich Geisler)

Mindener Tageblatt : Der Brexit ist eine beinahe unendliche Geschichte. Haben sie Hoffnung, dass es doch bald zu einem Ende kommt —oder Neuwahlen gar dazu führen, dass der Brexit ausbleiben könnte?

Jean Asselborn : Mehr als drei Jahre nach dem Referendum und nach insgesamt drei Verlängerungen des Brexit-Datums kann man immer noch nichts definitiv ausschließen. Der Wahlausgang des Urnengangs am 12. Dezember ist natürlich schwer vorauszusagen und zum jetzigen Zeitpunkt bleiben alle Optionen auf dem Tisch. So spricht sich Premierminister Johnson dafür aus, den Brexit auf Basis des geänderten Austrittsabkommens schnellstmöglich umzusetzen, während die Sozialdemokraten um Jeremy Corbyn sich für eine Neuverhandlung des Vertrags einsetzen - an dessen Ende ein zweites Referendum mit der Option "Verbleib" stehen könnte. Eine Mehrheit der Briten könnte dann für einen Verbleib in der EU stimmen, zurzeit ist dies jedoch höchst spekulativ, und ich selber gehe davon aus, dass das der Austritt des Vereinigten Königreichs am 31. Januar 2020 stattfindet.

Mindener Tageblatt : Ein Brexit würde weitreichende Folgen haben, nicht nur wirtschaftliche. Welches sind aus ihrer Sicht die bedeutendsten politischen Folgen - für Europa, für Deutschland?

Jean Asselborn : Die politischen und wirtschaftlichen Folgen des Referendums haben Großbritannien bereits jetzt massiv geschwächt und zur gesellschaftlichen Spaltung der Gesellschaft beigetragen. Im Endeffekt werden wahrscheinlich die einfachen Bürger die Leidtragenden sein, also auch jene Bevölkerungssicht die paradoxerweise mehrheitlich für den Brexit gestimmt hat. Politisch werden wir Europäer mit großer Wahrscheinlichkeit - wie auch Großbritannien - nicht gestärkt aus diesem Prozess hervorgehen. Für uns bedeutet der Brexit eine zusätzliche Herausforderung für unseren internen Zusammenhalt und unsere Rolle auf dem internationalen politischen Parkett. Auf sich alleine gestellt wird Großbritannien außerhalb der EU wohl zahlreiche Kompromisse eingehen müssen, wenn es darum geht, sich gegenüber anderen weiteren größeren Akteuren zu positionieren.

Mindener Tageblatt : Abgesehen vom Brexit hat die Europäische Union auch andere große Baustellen, etwa, dass Ende Oktober keine Einigung über die Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit Albanien und Nordmazedonien erzielt wurde. Ist damit der Erweiterungsprozess der EU gescheitert? Oder gibt es noch Möglichkeiten für Beitritte, außer den beiden Staaten vielleicht Kosovo, Bosnien-Herzegowina, Serbien und Montenegro?

Jean Asselborn : Die Stabilisierungs- und Assoziierungspolitik der EU und die europäische Integration der Balkanstaaten tragen entscheidend dazu bei die Region positiv zu beeinflussen und Reformen voranzutreiben. Die Umsetzung von Reformen ist, eine fundamentale Bedingung für die Entwicklung des europäischen Integrationsprozesses der Balkanländer und der Rhythmus der EU-Integration hängt von den Reformfortschritten des jeweiligen Beitrittskandidaten ab. Ich bin daher enttäuscht, dass wir die Mitgliedschaftsverhandlungen im Oktober nicht eröffnet haben, vor allem nachdem historischen Prespa-Abkommen zwischen Griechenland und Nordmazedonien. Gutnachbarliche Beziehungen im Balkan sind eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung der Region, und daher sollte die EU positiv auf diese Kompromisslösung reagieren.


Mindener Tageblatt :
Sie sind ein entschiedener Gegner des türkischen Vorgehens gegen die Kurden in Syrien — hat die Türkei damit auf ewig die Chance auf eine EU-Mitgliedschaft verspielt?
 

Jean Asselborn : Unter dem Deckmantel der "Selbstverteidigung" werden hier nationalistische Ziele verfolgt, mit weitreichenden Konsequenzen für die europäische und globale Sicherheitstage. Lassen sie es mich klar sagen: Diese militärische Invasion hat nichts mit Selbstverteidigung zu tun. Die Zivilbevölkerung in Syrien hat bereits extrem gelitten und nun werden erneut Dörfer bombardiert, lebenswichtige Infrastrukturen zerstört, und Zivilisten - darunter Kinder - getötet. Ich wiederhole daher noch einmal den dringenden Aufruf an die Türkei, diese unilaterale Militäraktion umgehend zu beenden! Im Oktober hat sich die EU im Rat für auswärtige Angelegenheiten im Konsens darauf geeinigt das militärische Vorgehen der Türkei im Nordosten Syriens zu verurteilen. Es wurde auch vereinbart, dass die EU-Mitgliedstaaten jede Militäraktionen der Türkei verurteilen, die die Stabilität und die Sicherheit der gesamten Region ernsthaft untergräbt. Folglich haben Mitgliedstaaten die Genehmigung von Waffenausfuhren in die Türkei unverzüglich gestoppt. Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechte sind nicht verhandelbar, auch nicht mit einem wichtigen Partner. Es ist daher völlig konsequent, dass die Beitrittsverhandlungen mit Ankara derzeit auf Eis liegen. Ich lege aber Wert darauf, weiter einen offenen und aufrechten Dialog mit der Türkei zu führen, um gemeinsame Herausforderungen und Interessen zu bewältigen.

Mindener Tageblatt : Probleme gibt es innerhalb der EU also nicht nur bei der Aufnahme möglicher Mitgliedsländer, sondern auch EU-intern. Was sind die größten Baustellen — und warum? Polen und die Justiz? Oder Ungarn und ihr autokratischer Regierungschef Viktor Orban? Rumäniens Umgang mit der Korruption?

Jean Asselborn : Anfang November wurden die polnischen Vorschriften über das Ruhestandsalter von Richtern und Staatsanwälten vom Gerichtshof der Europäischen Union als rechtswidrig erklärt und die Europäische Kommission hat ihren ernüchternden Bericht über die Entwicklungen im Zusammenhang mit der Justizreform und der Korruptionsbekämpfung in Rumänien vorgelegt. Im fall Ungarn hat sich der Rat im September mit dem Respekt der Rechtsstaatlichkeit im Fall Ungarn beschäftigt. Es gibt also Handlungsbedarf, denn in einigen Mitgliedstaaten werden unsere Grundwerte zunehmend in Frage gestellt. Unsere Aufgabe besteht darin, die Achtung aller Prinzipien und Werte der Europäischen Union, die in Artikel 2 des EU-Vertrags verankert sind, einzufordern und dabei keine Kompromisse einzugehen.

Mindener Tageblatt : Nicht erst durch die Fridays-for-Future-Bewegung gerät die Umweltzerstörung immer stärker in den Fokus vieler Menschen, viele junge Menschen werden durch den Klimawandel stärker politisiert. Die EU ist sich auch in diesem Punkt nicht einig. Was muss aus ihrer (EU-)Sicht noch besser gemacht werden, damit der Klimawandel aufgehalten oder zumindest verlangsamt wird?

Die EU trägt weltweit finanziell am meisten zur Bewältigung der Klimakrise bei. Im Jahr 2018 lag der Gesamtbetrag der Finanzierung bei 21,7 Milliarden Euro. Ein Beitrag der sich seit 2013 mehr als verdoppelt hat. Das reicht jedoch nicht aus - wir müssen und können mehr tun. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass alle Protagonisten, sowohl öffentliche als auch private, Entschlossenheit zeigen, die Anstrengungen zur Bekämpfung des Klimawandels rasch zu verstärken. Die meisten Mitgliedstaaten fordern, dass das Ziel der Klimaneutralität bis spätestens 2050 erreicht wird. Und viele von uns wollen mehr tun: Ziel sollte es sein, die Treibhausgasemissionen bis 2030 um 55 Prozent zu reduzieren.

 

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