"Mein Vorschlag an die Schweizer Regierung: Jetzt nicht alles abbrechen" rät Luxemburgs Aussenminister

Interview von Jean Asselborn in der NZZ am Sonntag

Interview: NZZ am Sonntag (Markus Bernath)

NZZ am Sonntag: Wer wird denn der nächste EU-Kommissionspräsident?

Jean Asselborn: Da kann ich nur meinen persönlichen Tipp abgebe. Frans Timmermans oder Kistalina Georgiewa.

NZZ am Sonntag: Das ist ja ziemlich präzis. Warum die beiden?

Jean Asselborn: Wenn die Staats- und Regierungschefs am Sonntagabend ihren Sondergipfel beginnen, dann gibt ja zwei Möglichkeiten: Entweder der Europäische Rat kommt zum Schluss, dass man im Konsens einen Kandidaten aus den Reihen der stärksten Partei im Europaparlament findet, der konservativen EVP, und der nicht Manfred Weber heisst. Eine grosse Minderheit von elf Staats- und Regierungschefs im Rat ist offenbar gegen den Deutschen. Wenn ich einen Namen nennen soll und es auch eine Frau sein soll, dann wäre es Georgiewa, die Vizepräsidentin der Weltbank und frühere EU-Haushaltskommissarin aus Bulgarien. Ich kenne sie gut.

NZZ am Sonntag: Sie ist 2016 im Streit aus Brüssel weggegangen.

Jean Asselborn: Es sind schon viele aus der Kommission weggegangen.

NZZ am Sonntag: Und die andere Option für den Chefposten?

Jean Asselborn: Ich bin Sozialdemokrat und stehe zu meiner politischen Familie. Deshalb Timmermanns. Er wäre ein starker Kommissionspräsident mit Durchsetzungsvermögen. Bleibt der Rat beim Prinzip der Spitzenkandidaten der Europawahl im vergangen Mai, dann wäre die Lösung, statt der EVP und deren Spitzenkandidaten Weber die zweitstärkste Partei im Parlament zu nehmen, also die Sozialdemokraten. Für sie war der Niederländer Timmermans angetreten. Der französische Staatschef ist gegen die Idee der Spitzenkandidaten, aber ich finde, man sollte das nicht einfach begraben. Dass es bei der Europawahl acht Prozent mehr Wahlbeteiligung gab, hat auch mit den Spitzenkandidaten zu tun. Die Leute konnten sich vorstellen, wer an die Spitze der EU-Kommission gewählt wird.

NZZ am Sonntag: Die Staats-und Regierungschef schlagen einen Kandidaten vor, aber das Parlament stimmt über ihn ab. Das ist ein relativ neues Verfahren, das auch schiefgehen kann, oder?

Jean Asselborn: Wenn das Parlament gegen den Kandidaten des Rats stimmt, sind wir in einer ziemlich blöden Situation. Deshalb muss das vorher mit dem Europaparlament ausgehandelt werden. Es geht ja auch um eine ganze Reihe von Personen: zunächst um den Kommissionspräsidenten, dann den Präsidenten des Europäischen Rats- und den streite sich niemand -, den Hohen Beauftragten für die Aussenpolitik, was ein schwieriges Handwerk geworden ist, denn in vielen aussenpolitischen Fragen haben wir in der Europäischen Union keinen Konsens mehr. Schließlich um den Europaparlamentspräsidenten und um den wichtigsten Posten in Frankfurt, der Chef der europäischen Zentralbank. Dass es auch diesen Sonntag am Ende keinen Konsens gibt, halte ich nicht für unmöglich.

NZZ am Sonntag: Welchen Kommissionspräsident wollen denn die Staats- und Regierungschef? Jemanden, der nicht viel Wind macht? Oder jemanden, der politischen Ideen hat und energisch ist?

Jean Asselborn: In der Regel sehen Länder, zumal Gründungsländer wie Luxemburg, in der Europäischen Kommission ihren Schutzpatron. Die kleinen und mittleren Länder sehen in der Kommission schon eine Garantie dass es europäisch zugeht, während die grossen Länder natürlich mit der Kommission streiten. Deutschland und Frankreich machen 30 Protzent der Bevölkerung der EU und über 40 Prozent des Finanzvolumens der EU. Die wollen aus ihrer Sicht nicht Milliarden über Milliarden einzahlen und dann nichts zu sagen haben.

NZZ am Sonntag: Das ist logisch.

Jean Asselborn: Ja, aber die Europäische Union wäre schlecht beraten, einen Kommissionspräsidenten zu haben, der vom Rat dominiert wird, von den Staats-und Regierungschefs. Im Europäischen Rat – das ist im Laufe der Jahre immer klarer geworden – werden nationale Interessen verteidigt. Wissen Sie, wir haben 2009, bei dem Reformvertrag von Lissabon die Menschen hinter Licht geführt.  Wir haben den Menschen erklärt, es werde jetzt mehr auf qualifizierte Mehrheit statt auf Einstimmigkeit gesetzt. Es werde nicht nur auf nationale Interessen, sondern auf das europäische Gesamtinteresse geschaut. Das Gegenteil ist geschehen. Entscheidungen im Ministerrat, wo die qualifizierte Mehrheit gilt werden einfach in den Rat der Staats- und Regierungschefs weitergeschoben. Dort gilt das Prinzip der Einstimmigkeit. Das beste Beispiel dafür, dass das nicht funktioniert, ist die Migration. In Sachen Migration hat der europäische Rat versagt, denn er hat sich auf das Prinzip der Freiwilligkeit zurückgezogen. Damit ist die europäische Migrationspolitik zusammengebrochen.

NZZ am Sonntag: Europa Umgang mit den Flüchtlinge ist für Sie ein Schlüsselproblem.

Jean Asselborn: Ja, weil ich auch 2015, in der zweiten Hälfte jenes Jahres, als die Flüchtlingskrise ihren Höhepunkt erlebt, den Ratsvorsitz in der EU innehatte. Damals waren es die Visegrad-Länder – Ungarn, Polen, Tschechien, die Slowakei-, die nicht mitzogen. Heute überwiegt diese negative Mentalität in der EU. Jedes Mal, wann so ein Flüchtlingsschiff wie jetzt vor Lampedusa eintrifft, entsteh der Anschein in der Öffentlichkeit, eine Krise sei ausgebrochen. Das ist falsch. Es ist keine Krise. Es ist ein politisches Problem. Diese Mal geht es um 42 gerettet Menschen. Und es sind immer allem die vier Länder, die dann diese Flüchtlinge aufnehmen: Deutschland, Frankreich, Portugal, Luxemburg. Ich weiss nicht, was die anderen europäischen Länder sich dabei denken, wenn sie Solidarität in einer Frage der elementarsten Menschlichkeit ablehnen.

NZZ am Sonntag: Ein Grossteil der europäischen Öffentlichkeit ist wohl nicht mehr bereit, weiter im großen Still Flüchtlinge aufzunehmen.

Jean Asselborn: Ja, weil wir sie aufgehetzt haben mit Angstmacherei. Aber wir sind doch kein Apartheit-Europa. Wir können doch nicht sagen, Menschen, die Muslime sind und arabisch sprechen, werden keine guten europäischen Bürger. Oder gehören vor unsere Tür gestellt, auch wenn sie bei uns Schutz beantragen. Das sage ich natürlich als Luxemburger, in einem Land, wo 47 Prozent keine Luxemburger sind.

NZZ am Sonntag: Sie werden nächsten Monat 15 Jahre im Amt sein. Sie sind Europas dienstältester Aussenminister. Wie hat sich für Sie dieses Europa in diesen Jahren verändert?

Jean Asselborn: Das ist eine Frage, die mich aufwühlt. 2004, 2005, als ich als Aussenminister anfing, hatten wir eine schwierige Zeit. Es war das Ende der heissen Phase im Krieg im Irak, Yasir Araft war noch da in Nahost, es gab die grosse Osterweiterung der EU: Aber die Hoffnung war da, dass man die Integration in Europa schafft, Frieden im Nahen Osten, dass Russland und Amerika einen Neustart hinbekommen. Das Prinzip Hoffnung hat überwogen, währen es jetzt das Prinzip Angst ist. Angst vor der Zukunft. Das hört man oft, wenn man Leute auf der Strasse trifft. Die stellen sich Fragen, wenn sie die Tweets von Trump lesen. Wenn sie sehen, was zwischen den USA und Russland, vor allem zwischen den USA und China geschieht und wie ohnmächtig wir Europäer in der Aussenpolitik sind. Was uns dann wirklich nach unten gezogen hat, war 2016. Das war das Brexit-Referendum im Juni und die Wahl von Trump im November, das Kaputtschlafen des Multilateralismus.  

NZZ am Sonntag: Wie kam es zu diesem Wandel von der Hoffnung zur Angst? Warum hat Europa nicht verstanden, auf die verschiedenen Krisen zu antworten?

Jean Asselborn: Wir haben uns immer als grosse ökonomische Macht gesehen. Wir haben auch gedacht: Wir haben diese europäischen Institutionen, das wird schon gehen. Wir waren vielleicht zu selbstsicher und zu naiv gegenüber dem, was um uns passierte in der Welt.  

NZZ am Sonntag: Die Schweizer hören aus Brüssel nun nichts anderes als die Briten: Das ist unser Angebot, Nachverhandlungen gibt es nicht. Das ist schon ein weniger arrogant, oder?

Jean Asselborn: Wir dürfen nicht den Fehler machen, den Brexit und das Rahmenabkommen zu vergleichen. Wir verhandeln schon seit 2014 mit der Schweiz. Wir haben immer gesagt, wir brauchen diese Rahmenabkommen, denn sonst fällt alles zusammen. Das andere Problem ist die Börsenäquivalenz, die nichts mit dem Rahmenabkommen zu tun hat. Sie wurde 2018 auf Antrag unter anderem von Luxemburg an die Kommission um sechs Monate verlängert, und an diesem Sonntag läuft sie aus. Es wäre schade, wenn wir jetzt in eine negative Spirale kommen, wo einer gegen den anderen steuert. Deshalb mein Vorschlag an die Schweizer Regierung: Jetzt nicht alles abbrechen, sondern mit den Sozialpartnern verhandeln und versuchen, dass wir noch vor November – vor dem Ende der Amtszeit der jetzigen Kommission – zu einem Rahmenvertrag kommen.

NZZ am Sonntag: Wen soll das Ende der Börsenäquivalenz jetzt erschrecken?

Jean Asselborn: Die Schweiz wird nicht erschrecken. Davon bin ich überzeugt. Das wird die Schweiz überleben. Aber man kann nicht fünf Jahre über ein Thema reden, wo man nahe an einer Verständigung war, und dann läuft es wieder auseinander. Das hat ja auch mit der Schweizer Innenpolitik zu tun. Und es gibt auch eine europäische Innenpolitik, und die ist zurzeit stark von anderem beeinflusst.

NZZ am Sonntag: Vom Brexit.

Jean Asselborn: Das sagen Sie jetzt.   

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