"Es steht sehr viel auf dem Spiel"

Interview mit Jean Asselborn im Telecran

Interview: Telecran

Telecran: Herr Asselborn, bezüglich der anstehenden Europawahlen sprechen manche von einer "Schicksalswahl". Was steht auf dem Spiel? 

Jean Asselborn: Es steht sehr viel auf dem Spiel. Wir leben in einer Zeit, in der man meinen könnte, dass der tiefe Sinn von Europa nicht mehr verstanden wird. Es gibt in vielen Ländern Politiker, die das nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene Europa zerbrechen möchten. Sie wollen das Europäische verdrängen und das Nationale wieder in den Vordergrund rücken.

Telecran: Wie kann man dem entgegenwirken? 

Jean Asselborn: Europa ist eine große Demokratie, in der die Bürger über ein Instrument verfügen, um ihre Meinung auszudrücken: Wahlen. Die diesjährigen Wahlen für das Europaparlament haben einen besonderen Charakter. Wenn wir das Projekt Europa, ein Friedensprojekt, an die kommenden Generationen weiterreichen wollen, müssen wir ein Europa erhalten, das den Werten, die wir in den letzten Jahrzehnten aufgebaut haben, auch gerecht wird und keinen nationalistischen Weg einschlagen. 

Telecran: Wie akut ist die Lage? 

Jean Asselborn: Diese Gefahren sind sehr aktuell. Zwei Länder - Polen und Ungarn - riskieren, dass man ihnen das Stimmrecht entzieht. Hinzu kommt mit großer Wahrscheinlichkeit Rumänien, das trotz Warnungen aus Brüssel ein Amnestiegesetz gestimmt hat, damit Leute, die wegen Korruption verurteilt wurden, wieder an die Regierungsmacht zurückkehren können. Ich hätte nie gedacht, dass wir einmal eine solche Situation erleben würden. Während Luxemburgs Kandidaturfür den UNO-Sicherheitsrat 2013/2014 hörte ich auf allen Kontinenten: "Wir wollen einmal den Standard an Grundrechten erreichen, den ihr in Europa habt." Die EU galt als Referenz, aber das wurde mittlerweile untergraben. 

Telecran: Allenthalben mehren sich die Stimmen der EU-Gegner. Hat sie wirklich so viele Feinde oder schreien diese nur lauter als ihre Anhänger? 

Jean Asselborn: Ich glaube angesichts der Umfragen, dass glücklicherweise die klassischen Parteien und die großen Blöcke - EVP, Sozialdemokraten, Liberale und Grüne - trotz allem die Überhand behalten werden. Wie die Koalitionen nachher aussehen, ist nicht so wichtig wie die Tatsache, dass die Kräfte, die Europa zerstören wollen, keine Mehrheit bekommen, um ihr Ziel zu erreichen. 
Eigentlich würde ich es mir fast wünschen, dass Orban, Salvini, Le Pen, die FPÖ oder die AfD sich zusammentun, damit die Wähler endlich sehen, wofür diese Leute eigentlich stehen. 

Telecran: Was halten Sie von der wachsenden Zustimmung für rechtspopulistische Parteien, die mehr Entscheidungskraft für ihre nationalen Parlamente fordern? 

Jean Asselborn: Wir haben heute in sehr vielen Ländern Parteien, die die nationalistische Karte spielen und den Menschen vorgaukeln, dass man die großen Themen dieser Zeit - Klimawandel, Terrorismus, voranschreitende Digitalisierung oder globalisierter Handel - auf nationaler Ebene meistern kann. Doch diese Probleme können selbst große Staaten wie Frankreich und Deutschland - aber auch Italien und Polen - nie alleine lösen.
Sie können sie nur im Verbund meistern. Es gibt zwei Arten von Ländern in Europa: die kleinen, wie Luxemburg, und diejenigen, die noch nicht bemerkt haben, dass sie klein sind. 

Telecran: Fehlt nationalistischen Strömungen in Luxemburg der Nährboden? 

Jean Asselborn: Auch hier gab es bereits solche Tendenzen, die allerdings immer im Keim erstickt wurden. Ich glaube, Luxemburgs Bürger spüren, dass Europa die einzige Chance ist, um als souveräner Staat zu überleben. Solche Ideen sind hierzulande unerheblich und man sollte sie auch nicht in den Vordergrund stellen. 

Telecran: Wie erklären Sie sich den Unmut zahlreicher Bürger gegenüber der EU? 

Jean Asselborn: Vieles liegt im Argen. In Ländern wie beispielsweise Spanien oder Italien gibt es verlorene Generationen, junge Menschen, die trotz Diplom in der Tasche keine Aussicht auf Arbeit haben. 
Ich verstehe, dass die Menschen verärgert sind. Deshalb brauchen wir in Europa auch Investitionspläne, um die Wirtschaft anzukurbeln. Bremser sind da fehl am Platz. Auch angesichts der Migration ist es unerhört, wie unsolidarisch einzelne Länder ihre Grenzen dicht machen und sich aus der Lastenverteilung ausklinken. Das kann so nicht weitergehen. 

Telecran: Was beeinflusst denn dieses Verlangen nach mehr Selbstbegrenzung nach außen? 

Jean Asselborn: Da ist zum einen der Brexit, den man nicht mit nationalistischen Tendenzen vermischen sollte. Die Briten tragen einen Kampf mit sich selbst aus, um den richtigen Weg zu finden, und bitten um Zeit, damit wir ihnen erlauben, nicht vor einem schwerwiegenden "No deal" zu stehen. Wir sind heute nicht mehr an dem Punkt, an dem Boris Johnson verlangte, Großbritannien müsse sich aus den Fängen der EU befreien, oder an dem Theresa May sagte "No deal is better than a bad deal". Und doch haben die Briten am 23. Juni 2016 mit der Zersetzung der internationalen Kooperation in Europa angefangen. 

Telecran: Ein weiteres Phänomen ist die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten. 

Jean Asselborn: Sein "America first" findet zahlreiche Nachahmer. 

Telecran: Wie gefährlich ist dies? 

Jean Asselborn: Multilaterale Beziehungen, die ja die Weltordnung nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmten und bei denen Luxemburg als Mitbegründer der UNO, der Nato und der EU mitgeholfen hat, werden aufgekündigt. Doch was eintreten würde, wenn dies alles zusammenbricht und der Patriotismus vorherrscht, das haben uns die 1930er-Jahre in Europa gezeigt. 

Telecran: Wieso fällt es der EU so schwer, in wirtschaftlicher wie militärischer Hinsicht mit einer Stimme zu sprechen? 

Jean Asselborn: Die EU ist wirtschaftlich die stärkste Macht dieser Welt und in den meisten Ländern auch der größte Investor. Doch wir repräsentieren nur noch sieben Prozent der Erdbevölkerung. Die EU ist ein Konstrukt aus 28 Ländern mit ihren jeweiligen Regierungen und Parlamenten, die ihre Interessen international vertreten wollen. Ich finde es schlimm, wenn wir in wichtigen Fragen geteilter Meinung sind. Ein Beispiel dafür ist der Friedensprozess zwischen Israel und Palästina, wo wir keine gemeinsame EU-Position mehr haben.
Andererseits stehen wir geschlossen zusammen, um das nukleare Abkommen mit dem Iran nicht zerbrechen zu lassen. Wir wollen nicht, dass der Iran in den Besitz einer Atombombe kommt. Auch beim Klimaabkommen von Paris zeigt sich, dass die Position der EU sehr stark ist, wenn wir in internationalen Fragen auf einer Linie sind. Um dies weiterhin erreichen zu können, gibt es Bestrebungen, die Einstimmigkeit bei Entscheidungen aufzuheben. 

Telecran: Mauert nicht auch Luxemburg, wenn es beispielsweise um die Abschaffung der Einstimmigkeit bei der Steuerharmonisierung geht? 

Jean Asselborn: Ich weiß, Luxemburg ist in manchen Bereichen für die Einstimmigkeit. Doch beim Aufbrechen der Einstimmigkeit in der Außenpolitik geht es darum, wie die EU sich nach außen präsentiert. Steuerfragen betreffen die Innenpolitik und diese Konzepte sind in den EU-Ländern verschieden gewachsen.
In Luxemburg hatten wir immer schon einen hohe Direkt- und eine niedrige Indirektsteuer. Es kann tatsächlich nicht sein, dass große Konzerne kaum Steuern zahlen, während der kleine Handwerker zur Kasse gebeten wird.
Dieses Problem betrifft nicht nur Luxemburg und wir versuchen ja, dass dies sich ändert. 
Luxemburg hat in den letzten fünf Jahren nie sein Veto-Recht gezogen, aber entschieden mitgeholfen, im europäischen Konsens große Reformen in Steuerfragen voran zu bringen. So wurden 16 Richtlinien in Finanzfragen gutgeheißen. Ich erinnere nur an den automatischen Austausch von Steuervorentscheiden, die „Rulings", eine Richtlinie, die während unserer Ratspräsidentschaft 2015 Wirklichkeit wurde. 

Telecran: Drohen wirtschaftliche Allianzen, die China mit EU-Staaten wie Italien oder Österreich schmiedet, zum weiteren Spaltpilz zu werden? 

Jean Asselborn: Wir dürfen nicht naiv sein. China will sein Modell - das nicht unseres ist - auf wirtschaftlichem Weg nach Europa exportieren. Wir dürfen auch nicht in Paranoia verfallen, wenn es um Fragen der Kooperation mit China geht. Wir sind nicht mehr der Nabel der Welt, die Beziehungen mit den USA, Russland und auch China sind schwierig. Anstatt diese zu verkomplizieren, sollten wir gemeinsam analysieren, welches unsere Interessen sind und wo die Gefahren liegen.
Die chinesischen Unternehmen haben heute einen guten Zugang zum EU-Markt, doch das ist umgekehrt nicht der Fall und muss sich ändern. Wir wollen keine Seidenstraße nur von Ost nach West, sie muss auch von West nach Ost funktionieren. 

Telecran: Wie würden Sie das Wesen der EU zusammenfassen? 

Jean Asselborn: Die europäischen Werte kann man mit einem Wort beschreiben: Demokratie. Sie müssen wir hoch halten, indem wir nie an der Rechtsstaatlichkeit kratzen - was leider zurzeit passiert -, indem wir eine freie Presse haben, eine unabhängige Justiz und Achtung gegenüber Minderheiten. 
Das sind die Kopenhagener Kriterien von 1993, die man erfüllen muss, um Mitglied der EU zu werden. Sie sind die Essenz der EU, ihre Seele. Wenn es Politiker, Parteien oder Regierungen gibt, die diese Regeln nicht mehr respektieren, haben wir ein großes Problem. Sie sind dann nicht mehr Teil der Gemeinschaft, die gegründet wurde, um Frieden und Fortschritt in Europa zu garantieren. 

Telecran: Inwiefern hat Luxemburg bisher vom "grenzenlosen" Europa profitiert? 

Jean Asselborn: Wir haben ungemein von den Vorzügen der freien Zirkulation profitiert. Gerade mal fünf Länder unterschrieben im Juni 1985 das Schengener Abkommen.Heute zählt es 26 Mitglieder. Der Wegfall der stationären Kontrollen an den Binnengrenzen ist eine große Errungenschaft Europas, denn der Vertrag reicht mit Ländern wie Norwegen oder der Schweiz weit über die EU hinaus. Als Luxemburger kann man in 25 Länder des Schengen-Raums reisen; ohne an den Grenzen anzuhalten oder sich ausweisen zu müssen. Das ist weltweit etwas Einmaliges, das hart erarbeitet werden musste. 

Telecran: Von 1982 bis 2004 waren Sie Bürgermeister der Gemeinde Steinfort. Wie erlebten Sie den Wegfall der Grenzkontrolle mit Belgien? 

Jean Asselborn: Tagtäglich waren in Steinfort die Luxemburger und die Arloner-Straße vollgestopft mit Lastwagen - manchmal sogar drei Kilometer aus der Ortschaft hinaus bis nach Windhof. Durch den Wegfall der Grenzkontrollen haben wir die Last des Verkehrs, aber auch die Umweltverschmutzung ablegen können. Ein riesiger Fortschritt.

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