"Handlanger von Orban"

Interview von Jean Asselborn im "profil."

Interview: profil (Christoph Zotter)

profil: Was sagen Sie dazu, dass Österreich den bereits ausverhandelten "Globalen Pakt für sichere, geordnete und reguläre Migration" ablehnt?

Jean Asselborn: Diese Kehrtwende ist erstaunlich. Beim Thema Migration agiert die Kurz-Strache-Regierung als Handlanger von Viktor Orbän. Jeder in Europa, der sich für europäische Politik interessiert, weiß das.

profil: Sie sind offenbar enttäuscht von Österreich.

Jean Asselborn: Es ist nicht die erste Enttäuschung. Österreich hat in seiner EU-Präsidentschaft bei verschiedenen Gelegenheiten betont, ein "ehrlicher Makler" sein zu wollen. Wenn man dann aber die Innenpolitik in den Vordergrund stellt, ist man ein schlechter Europäer. Europäisch zu denken heißt, das Nationale ein wenig - während der Präsidentschaft sogar mehr - in den Hintergrund zu schieben und darauf zu achten, was im Interesse Europas liegt. Es kann aber nicht im Interesse Europas liegen, dass die österreichische EU-Präsidentschaft Teil der populistischen Internationale ist: von Ungarns Orbän über Amerikas Trump bis zu Brasiliens Bolsonaro.

profil: Die Regierung in Wien sagt, sie habe im Fall des Migrationspaktes im Interesse der Österreicher entscheiden müssen.

Jean Asselborn: Migration braucht internationale Lösungen. Dieser Pakt hat ein großes Ziel: die erstmalige Kooperation zwischen den Herkunftsländern, den Transitländern und den Zielländern. Er ist eben kein Vertrag, kein bindendes Instrument. Der Pakt wird nicht einmal unterzeichnet. Das muss man den Menschen klar sagen.

profil: Bundeskanzler Sebastian Kurz meint, aus dem Pakt könnte durch Gewohnheit irgendwann einmal bindendes Völkerrecht entstehen.

Jean Asselborn: Das ist falsch und an den Haaren herbeigezogen. Wenn man gegen etwas ist, sucht man eben einen Vorwand.

profil: Sind Sie überrascht, dass Kurz den Pakt nun ablehnt?

Jean Asselborn: Ich bin absolut nicht überrascht. Ich habe den Werdegang von Kurz mitverfolgt. Sein ganzes politisches Denken ist fokussiert auf Migration. Er geht in eine Richtung, die leider keine ist, die Europa weiterhilft.

profil: Luxemburg wird den Migrationspakt annehmen. Warum gab es bei Ihnen keinen Widerstand?

Jean Asselborn: Weil wir Glück haben. Kein relevanter luxemburgischer Politiker würde so handeln wie die österreichische Regierung. Eine Regierung ist nicht nur dazu da, dem Volk aufs Maul zu schauen.

Sie muss das Land in die richtige Richtung dirigieren. Ich verstehe ja, dass manche Politiker sich auf so etwas einlassen, um gewählt zu werden. Aber wenn sie auf der anderen Seite sagen, sie seien Brückenbauer, werden sie aus europäischer Sicht nicht ernst genommen. Im Gegenteil: Es gibt in Europa nicht nur Länder, die Migration so sehen wie Ungarn oder Polen. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass in Österreich das ganze Volk hinter dem Ausstieg aus dem Pakt steht.

profil: Österreich hat bei den Verhandlungen zum Migrationspakt eine führende Rolle übernommen.

Nachdem Ungarn sich im März nach der ersten von sechs Runden aus den Verhandlungen zurückzog, verbot die ungarische Regierung der EU, weiter im Namen aller 28 Mitglieder in New York aufzutreten.

Daraufhin hat sich Österreich anerboten, die Positionen der übrigen 27 zu vertreten. Wie haben die luxemburgischen Diplomaten ihre österreichischen Kollegen in Erinnerung?

Jean Asselborn: Sie haben eine phänomenale Rolle gespielt, Hut ab! Das ist die Aufgabe europäischer und österreichischer Diplomatie: ein Netzwerk zu schaffen, in dem die zukünftige Kooperation zwischen den Herkunfts- und Zielländern verbessert wird.

profil: Vizekanzler Heinz-Christian Strache behauptete in einem "Presse"-Interview, dass österreichische Beamte "mehrfach kritische Positionen" eingebracht hätten.

Jean Asselborn: Das stimmt nicht. Mir wird von allen Seiten gesagt, dass die österreichischen Diplomaten ernsthaft versuchten, zwischen den EU-Ländern eine positive Einstellung zu diesem Pakt zu befördern. Ich habe ein großes Problem damit, diese Wende der österreichischen Politik zu verstehen. Die Regierung ist infiziert von den Visegrâd-Ländern.

Wenn sie so weitermacht, wird sie deren Einstellung irgendwann vollständig übernehmen. Österreich hat während seiner EU-Präsidentschaft bislang systematisch alles ausgeklammert, was mit europäischer Solidarität und Verantwortung zu tun hat. Das wird auch das Erbe dieser Präsidentschaft sein.

profil: Die österreichische Regierung sieht sich selbst als Brückenbauer.

Jean Asselborn: Sie macht alles, was ein "ehrlicher Makler" nicht machen würde. Wien ist immerhin ein wichtiger Sitz von UN-Institutionen. Ich glaube nicht, dass man dieses Problem unbeschadet überstehen wird. Der Multilateralismus steht unter Beschuss. Wenn man in einer kapitalen Frage wie der Migration beginnt, sich auf die Seite derer zu schlagen, die den Multilateralismus kaputtmachen wollen, ist das schlecht.

profil: Sie glauben, dass die Regierung in Wien Österreichs Ruf geschadet hat?

Jean Asselborn: Es gibt auch viele Österreicher oder Nichtluxemburger, die das so sehen. Der Applaus für die Position Österreichs in der Europäischen Union ist nicht überwältigend - auch wenn einige sich jetzt trauen, in dieselbe Richtung zu gehen. Die große Mehrheit macht das nicht mit: kein skandinavisches Land, kein südländisches.

profil: Was ist mit Italien?

Jean Asselborn: Ich glaube nicht, dass Italien ein Interesse daran hat, alle seine Beziehungen mit Afrika zu zerschlagen. Italien sich bisher jedenfalls nicht zum Migrationspakt geäußert.

profil: Noch nicht.

Jean Asselborn: Die große Mehrheit Europas wird in Marrakesch die UN unterstützen.

profil: Nach dem österreichischen Rückzug begannen entsprechende Debatten auch in Polen, Tschechien oder Kroatien. Wie viele EU-Länder werden am Ende noch dabei sein?

Jean Asselborn: Eine sehr große Mehrheit.

profil: Glauben Sie, dass Österreich andere Länder dazu bewogen hat, ebenfalls auszusteigen?

Jean Asselborn: Ich will Österreich nicht in die Ecke drängen. Man muss aber sagen, dass wir in den vergangenen Jahren keine EU-Präsidentschaft hatten, die den Fokus so stark auf ihre nationalen Interessen richtete wie derzeit die österreichische. Das ist sehr enttäuschend. Und ich bin nicht der Einzige, der das sagt. Ich habe so etwas in meinen vierzehneinhalb Jahren als Außenminister noch nicht erlebt. Man sagt, man will "ehrlicher Makler" sein, man will Europäer sein - und macht genau das Gegenteil. Wir sind keinen Schritt vorangekommen. In Deutschland hört man oft, Migration sei nicht alles. Aber seit dem Jahr 2015 ist die Migrationspolitik ein systemisches Problem geworden. Es gelingt nicht viel.  Wenn sich Österreich in dieser Frage nun auf die Seite der Ungarn schlägt, dann muss man sehen, wo das hinführt.

profil: Wohin denn?

Jean Asselborn: In Ungarn werden Beschlüsse des Europäischen Gerichtshofes nicht mehr respektiert. Der EuGH hat vor einem Jahr entschieden, dass sich jeder EU-Staat an der Umsiedlung von Flüchtlingen zu beteiligen hat. Für die Ungarn ging damit der Kampf erst los. Nicht nur Solidarität und Verantwortung werden infrage gestellt, auch die Institutionen in Europa. Das endet damit, dass der EuGH nicht mehr als Autorität anerkannt wird. Ich finde es auch bedenklich, dass wir im Europäischen Rat nur eine knappe Mehrheit haben, um überhaupt darüber reden zu können, ob die polnische Regierung das Recht hat, sich in die Justiz einzumischen. Das ist wie ein Krebsgeschwür. In Polen, Ungarn in Rumänien fängt es auch schon an. Kein einziges Land aus dem Osten Europas stellt sich dagegen. Auch die baltischen Länder beziehen öffentlich nicht Stellung. Letztere stehen unter Druck, aber sichern in geschlossenen Sitzungen zu, dass Rechtsstaatlichkeit nicht verhandelbar ist.

profil: Sie fürchten, dass Österreich sich ebenfalls auf diesem Weg befindet?

Jean Asselborn: Ich hoffe, dass es ein Land mit Demokratiekultur bleibt. Österreich hat großen Einfluss auf die Balkanländer. Es wäre fatal, wenn die österreichische Regierung in Fragen der Rechtsstaatlichkeit einen Schritt in die falsche Richtung machen sollte.

profil: Davon wird in den kommenden Monaten auf europäischer Ebene eher mehr als weniger zu hören sein. Im Mai 2019 steht die Wahl zum EU Parlament an. Rechte und populistische Parteien haben in einigen Ländern in den Umfragen zuletzt stark zugelegt.

Jean Asselborn: Migration wird ein zentrales Wahlkampfthema sein. Nach der Wahl könnten wir damit konfrontiert sein, dass jene dort die zweitstärkste Kraft sind, die Europa nicht nur kritisieren, sondern zerstören wollen. Vielleicht muss das auch einmal geschehen, damit allen die Augen geöffnet werden.

Zum letzten Mal aktualisiert am