Interview von Jean Asselborn im Deutschlandfunk

"Der Ball liegt bei Großbritannien"

Deutschlandfunk: Am Telefon begrüße ich Jean Asselborn, Luxemburgs Außenminister. Guten Morgen, Herr Asselborn.

Jean Asselborn: Guten Morgen, Herr Dobovisek.

Deutschlandfunk: Für die EU führt Michel Barnier die Brexit-Verhandlungen. Der wird heute Abend den Staats- und Regierungschefs Bericht erstatten. Gestern hat er das schon in der Runde der Europaminister getan. Sie waren mit dabei, Herr Asselborn. Was hat Barnier Ihnen gesagt?

Jean Asselborn: Ja, er hat klar gesagt, und ich gehe auch davon aus, dass mit großer Wahrscheinlichkeit – und ich schließe sogar ein Wunder aus – heute kein Durchbruch geschieht, und Barnier wird Bericht erstatten über die Lage. Aber Barnier ist wie wir alle, glaube ich, in der Europäischen Union überzeugt, dass wir bis Dezember es fertigbringen, eine Lösung zu finden bei Artikel 50, also beim Austritt, und dann auch eine Erklärung abzugeben über die Zukunft der Beziehungen.

Und wenn Sie mich fragen warum: Ich glaube, es handelt sich hier um eine sehr, sehr tiefgreifende Entscheidung, und wenn diese Entscheidung schlecht ist, können 10.000 Arbeitsplätze in Gefahr sein. Die Sicherheit Europas steht auf dem Spiel, die Wirtschaftsleistung kann nach unten gezogen werden, und Sie sehen ja auch, dass Theresa May diesen Satz nicht mehr sagt,  "No Deal is better than a bad Deal“.

Deutschlandfunk: Viel mehr sagt Theresa May im Moment gar nicht und macht auch keine neuen Angebote.

Jean Asselborn: Ja! Aber wissen Sie, wir in Europa – ich wollte den Satz noch sagen –, wir haben verstanden, natürlich wird Großbritannien kein Drittstaat werden wie jeder andere, aus historischen, politischen, kulturellen Gründen. Ich glaube, die Bindungen sind sehr stark. Theresa May müsste heute schon irgendwie trotzdem eine Öffnung machen, denn Macron hat ja gesagt – und ich gebe ihm auch recht –, dass ein neuer Gipfel im November eigentlich nur Sinn macht, wenn auch eine Öffnung heute zustande kommt. Sie wissen ja, dass 80 Prozent geregelt sind von Artikel 50. Es bleiben diese 20 Prozent und das ist die innerirische Grenze.

Deutschlandfunk: Bevor wir darauf zu sprechen kommen, noch mal ganz allgemein gefragt. Mehr Zeit erbittet Theresa May und erbittet auch Michel Barnier. Sie sind offensichtlich bereit, da auch mehr Zeit zu gewähren, Herr Asselborn, mehr einzuräumen. Gibt es tatsächlich das Angebot der Europäer, Großbritannien mit einer längeren Übergangsfrist im Binnenmarkt zu halten, auch ohne Abkommen?

Jean Asselborn: Wir müssen hier unterscheiden. Ich glaube, das ist auch wichtig, dass nicht alles durcheinanderkommt in der Wahrnehmung. Das Datum ist 29.3.2019, 23 Uhr britischer Zeit, wo Großbritannien austritt – es sei denn, Einstimmigkeit würde herrschen im Europäischen Rat und dieser 29. 3. würde verlängert werden. Aber das ist ein Datum, was selbst von den Briten vorgeschlagen wurde.

Wenn man zurückgeht, dann braucht das Europäische Parlament und auch das britische Parlament drei Monate, um sich vorzubereiten auf dieses Votum. Sie wissen, in Europa hat das Europaparlament das letzte Wort und natürlich das britische Parlament. Dann sind wir im Dezember 2018. Wir müssen es bis Dezember 2018 hinbekommen. Was verlängert werden kann ohne Probleme, ist der 1. Januar 2020 für die Transitionsphase. Wenn da ein Jahr drangehängt wird, das schadet Europa nicht, ich hoffe auch Großbritannien nicht. Natürlich, wir müssen wissen: In dieser Transitionsphase sitzt Großbritannien nicht mehr mit am Tisch. Das ist das eine, was auch gestern Barnier uns klar noch mal gesagt hat.

Etwas anderes ist etwas technisch, aber eine doppelte Backstop-Lösung. Wenn Sie wollen, werde ich Ihnen das erklären.

Deutschlandfunk: Herr Asselborn, all jene, die jetzt vorschlagen, diese Übergangslösung, diese Übergangszeit so drastisch zu verlängern und Großbritannien im Binnenmarkt zu halten, die geben doch im Grunde auf, dass es bis Dezember eine vernünftige Einigung geben kann.

Jean Asselborn: Das eine hat nichts mit dem anderen zu tun. Die Transitionsphase tritt ja erst in Kraft nach dem 1. Januar 2020. Wenn man da ein Jahr dranhängt, um eine gute Transition hinzubekommen, muss man ja davon ausgehen, dass der Brexit am 29. März 2019 auch geschieht. Sonst brauchen wir nicht von einer Übergangslösung zu reden. Aber was vielleicht noch interessant ist, wenn ich mich verständlich machen kann: Eine doppelte Backstop-Lösung ist jetzt auf dem Tisch.

Backstop heißt, dass wir den Iren eine Versicherung geben, eine Auffanglösung geben, dass in Irland keine physische Grenze mehr hergestellt wird. Zweitens, dass wir den Briten politisch zugestehen, dass ein Versprechen eingebaut wird, dass wir zu einer Zollunion, zu einem Zollabkommen kommen. Wenn wir Zollunion sagen, dann haben die Brexitiers schon Nesselfieber, aber dass wir zu einer Zollunion kommen. Das heißt, wir haben eine doppelte Lösung, auch was Backstop angeht: Einmal für Irland, aber andererseits auch für Großbritannien. Und das sollten die Briten sich gut überlegen, ob sie da nicht einwilligen, denn das würde, glaube ich, einen großen Schritt in Richtung Lösung bringen.

Deutschlandfunk: Halten Sie das für eine realistische Lösung?

Jean Asselborn: Ja! Die lag ja auch zum Teil auf dem Tisch. Wo wir auseinander liegen – das muss man auch vielleicht ein wenig erklären –, ist, dass die Briten gesagt haben, dieser Backstop, diese Versicherung muss zeitlich begrenzt sein. Dann sagt Irland, dann sagt die Europäische Union, nehmen Sie das Beispiel, Sie machen eine Feuerversicherung und nach einem Jahr kündigen Sie die. Wenn dann nach einem Jahr und einem Monat Feuer entsteht in Ihrem Haus, dann hatte die Versicherung keinen Sinn. Und darum: Wir müssen diese Backstop-Lösung, diese Versicherung beibehalten, solange bis es zu einer Lösung kommt, natürlich auch, was den Umgang mit Irland angeht.

Deutschlandfunk: Dafür muss sich Großbritannien jetzt bewegen?

Jean Asselborn: Ja, klar! Der Ball liegt bei Großbritannien. Aber wissen Sie, das ist schon eine Entscheidung, mit großer Substanz, mit großer Tragweite. Ich vergleiche das nicht mit der Wiedervereinigung in Deutschland, aber was den Aufwand angeht, auch der legislative, administrative Aufwand, das ist riesig. Und natürlich: Es muss stocken, es muss Zeit kosten, es muss Polemik sich entfalten lassen, es muss eine Inszenierung sein, ich glaube auch für das britische Parlament. Das kann ja nicht wie ein Brief auf dem Postamt jetzt glatt über die Bühne gehen. Das gehört alles dazu und ich glaube, ich bin davon überzeugt, denn es steht zu viel auf dem Spiel, dass auf britischer Seite und auch auf unserer Seite wir alles tun, damit wir im Dezember – das dauert höchst wahrscheinlich bis Dezember, bis dann Artikel 50 auf dem Tisch liegt – eine Lösung haben.

Natürlich müssen wir uns auf einen No Deal noch immer vorbereiten in der Europäischen Union. Es kann ja sein, auch wenn wir eine Lösung finden bis Dezember, dass entweder das britische Parlament vor allem, oder das Europäische Parlament damit nicht einverstanden sind, und dann sind wir beim No Deal und darauf müssen wir uns natürlich auch vorbereiten.

Deutschlandfunk: Wäre denn der No Deal, der harte Brexit für Europa tatsächlich so ein großer Teufel, den vor allem die Wirtschaft immer gerne an die Wand malt?

Jean Asselborn: Es gibt ja zwei Sachen. Die Diplomaten reden schon von einem No Deal, No Deal. Das heißt, man hat im Dezember, wenn man sieht, es geht nicht, drei Monate Zeit, um diesen No Deal vorzubereiten. Um was geht es hier? Das müssen wir ja wissen. Es geht um Heathrow, es geht um die Flugverbindungen, es geht um die Straßenverbindung, es geht um die Häfen, es geht um die Schienenverbindungen. Es geht aber auch um die Rechte der Briten in Europa und der Europäer in Großbritannien, die Bürgerrechte und deren Garantien. Da muss sehr schnell gehandelt werden, dass wir hier ein spezifisches Abkommen auf die Beine bekommen. Sonst könnte es ja Chaos werden oder würde es Chaos werden, wenn wir das nicht hinkriegen in Europa.

Deutschlandfunk: Aber die Welt wird nicht untergehen?

Jean Asselborn: Nein, wir werden nicht untergehen. Aber Sie müssen sich vorstellen, was das in Dunkirk wird, Sie müssen sich vorstellen, was es auf Heathrow wird, und Sie müssen sich vorstellen, was das für ein Durcheinander ist – ich sage es noch einmal –, dass zehntausende Arbeitsplätze auf dem Spiel stehen können. Das müssen wir vermeiden, das müssen die Briten vermeiden und auch wir. Die Backstop-Lösung ist die schlechteste Lösung, die es geben kann, wenn wir uns nicht verständigen, aber es ist trotzdem etwas, was wir dann hinbekommen müssen, glaube ich, um den Alltag der Briten und der Europäer nicht total auf den Kopf zu stellen.

Deutschlanfunk: Bei all dem, was Sie gerade erzählt haben in den vergangenen Minuten, was Sie gestern bei den europäischen Außenministern wahrgenommen haben, was Sie bei den Staats- und Regierungschefs wahrnehmen, glauben Sie an eine Lösung bis Dezember?

Asselborn: Ja.

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