Interview von Jean Asselborn im Spiegel online

"Da muss man klare Kante zeigen"

Interview: Spiegel online (Markus Becker)

Spiegel online: Herr Minister, der Höhepunkt der Flüchtlingskrise liegt jetzt drei Jahre zurück, und die EU-Staaten streiten immer noch über die Verteilung der Menschen. Glauben Sie noch an eine gütliche Lösung?

Jean Asselborn: Nur acht von 28 EU-Staaten haben bisher dabei mitgeholfen, diese Menschen von den Booten zu bekommen. Eine EU-Lösung ist nur möglich, wenn alle mitmachen.

Spiegel online: Werden dazu jemals alle bereit sein?

Jean Asselborn: Viele sind es, aber einige leider überhaupt nicht. Wenn beispielsweise Österreichs Kanzler Sebastian Kurz oder Italiens Innenminister Matteo Salvini ihre Versprechen von dichten Grenzen wahr machen wollen, gibt es eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Sie lassen diese Menschen ertrinken oder auf den Booten verhungern.

Spiegel online: Wo liegt das größte Hindernis für eine gemeinschaftliche EU-Lösung?

Jean Asselborn: Es gibt Mitgliedstaaten, die den Sinn gemeinsamen europäischen Handels nicht mehr verstehen - es sei denn, es geht ums Geldverteilen oder die Terrorismusbekämpfung.

Spiegel online: An welche Länder denken Sie da?

Jean Asselborn: Nehmen Sie Ungarn oder Polen. Das sind Länder mit zehn beziehungsweise 40 Millionen Einwohnern. Ich verstehe nicht, warum sie nicht in der Lage sein sollen, ein paar Tausend Flüchtlinge aufzunehmen. Aber freiwillig geht da im Moment leider gar nichts.

Spiegel online: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat kürzlich gesagt, Europa sei "kein Supermarkt", in dem sich jeder das aussuchen könne, was ihm gefalle. Ihr französischer Amtskollege Jean-Yves Le Drian hat kürzlich sogar mit Blick auf Polen und Ungarn gedroht, unsolidarisches Verhalten und den Verstoß gegen EU-Grundwerte mit Geldentzug zu ahnden. Hat er recht?

Jean Asselborn: Aber sicher. Eine solche Drohung musste irgendwann kommen. Und wenn sich nichts ändert, wird Ähnliches in anderen Bereichen passieren, beispielsweise wenn die östlichen EU-Länder künftig die Solidarität des Westens in Fragen der Sicherheit und Verteidigung einfordern. Solidarität praktiziert man, oder man lässt es. Man kann sie nicht in Scheiben schneiden. Sie macht das Wesen der EU aus, zusammen mit der Rechtsstaatlichkeit. Bei diesen Themen muss man klare Kante zeigen.

Spiegel online: Genügt klare Kante, um die EU politisch zusammenzuhalten?

Jean Asselborn: Natürlich nicht. Man muss argumentativ zeigen, dass die EU dann am stärksten ist, wenn sie einheitliche Positionen vertritt. Nur leider ist das in zentralen außenpolitischen Fragen immer seltener der Fall.

Spiegel online: An welche denken Sie?

Jean Asselborn: Ein Beispiel ist das transatlantische Verhältnis. Die USA und die EU sind keine Wertegemeinschaft mehr, sondern mittlerweile eine totale Interessengemeinschaft. Das bringt einige EU-Länder zunehmend dazu, sich je nach Thema herauszupicken, wer ihnen mehr nützt: die EU oder die USA. Das schwächt die EU-Position auch auf anderen Feldern, etwa im Nahostkonflikt.

Spiegel online: Selbst wenn die EU in der Nahostpolitik einig wäre, welchen Einfluss besäße sie noch angesichts des Vorgehens von US-Präsident Donald Trump?

Jean Asselborn: Seit Trump zum US-Präsidenten gewählt wurde und die US-Botschaft nach Jerusalem verlegt hat, läuft im Nahostkonflikt alles in die falsche Richtung. Israels Siedlungspolitik hat inzwischen ein Maß an Aggressivität erreicht, das man so noch vor Kurzem nie erwartet hätte. Die Zwei-Staaten-Lösung ist kurz davor, physisch unmöglich zu werden. Zugleich vergiftet das neue Nationalitätsgesetz alles. Israel stellt damit das Jüdische über das Demokratische - und läuft Gefahr, ein Apartheidsystem aufzubauen. Das alles ist nur möglich, weil die israelische Regierung mit voller Rückendeckung der USA operieren kann. An einer Zwei-Staaten-Lösung ist sie ganz offensichtlich nicht mehr interessiert.

Spiegel online: Was kann die EU unter diesen Umständen überhaupt noch bewirken?

Jean Asselborn: Die EU muss eine einheitliche Position haben, die eine Lösung möglich macht. Das hat nichts damit zu tun, propalästinensisch oder proisraelisch zu sein. Und bisher war die Zwei-Staaten-Lösung das Zentrum unserer Nahostpolitik: Israel kann dauerhaft nur in Frieden leben, wenn auch die Palästinenser ihren Staat bekommen. Leider wird das in einigen EU-Ländern inzwischen anders gesehen. Durch unsere Zerstrittenheit verschärfen wir die Situation womöglich noch.

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