Interview mit Jean Asselborn im General Anzeiger (Online)

"Erdogan und Orban spielen mit der Angst"

Interview: General Anzeiger (Online)

General Anzeiger: Wie gefallen Ihnen eigentlich die Politik und das Auftreten von Annalena Baerbock?

Jean Asselborn: Es gibt in der Außenpolitik kein Schwarz und kein Weiß. Und die Komplexität der Themen nimmt zu. Aber sie hat schnell gelernt und was sie macht, ist erfrischend. Sie hat das Ohr im Außenministerrat der EU, man hört ihr zu. Ich habe einen sehr guten persönlichen Kontakt mit ihr.

General Anzeiger: Kann Deutschland von Luxemburg etwas lernen?

Jean Asselborn: Ich bin ja nicht in der Position eines Lehrers der deutschen Außenministerin. Sie hat schon das Zeug, selbst zu lernen. Ich habe bei mir festgestellt: Es dauert manchmal Jahre, bis man versteht, wie die Zusammenhänge funktionieren. Auch wenn man ein Gespür für die Außenpolitik hat.

General Anzeiger: Im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg wirft man Deutschland vor, auf der Bremse zu stehen. Wie sehen Sie das?

Jean Asselborn: Ich habe das nie so gesehen. Deutschland ist das Land in der EU, das der Ukraine bisher am meisten geholfen hat und auch die Panzer-Entscheidung hat es gut hinbekommen. Jetzt muss die Produktion von Munition ausgeweitet werden. Denken Sie zurück an den 24. Februar 2022. Da war nicht sofort klar, wie sich die EU verhalten würde. Aber wir haben es gemeinsam geschafft, Sanktionen gegen Russland zu erlassen und viele von uns haben erstmals Waffen in ein Kriegsgebiet geliefert. Ich darf daran erinnern, dass wir uns damit im Rahmen des Artikels 51 der UN-Charta befinden, nach der ein überfallenes Land das Recht hat, sich zu wehren. Auch mithilfe einer Koalition. Daran sind wir alle 27 beteiligt.

General Anzeiger: Wie kommt denn der Eindruck zustande, dass Deutschland der Bremser ist? Liegt es an der Kommunikation?

Jean Asselborn: Jeder Regierungschef hat seine Art und Weise zu kommunizieren. Der Bundeskanzler überlegt halt dreimal, bevor er ein Wort sagt. Das ist nicht immer falsch. Bei den Panzern hat Deutschland im richtigen Moment geklärt, wohin es will.

General Anzeiger: Es könnte manchmal schneller gehen.

Jean Asselborn: Wir sind aber nicht die USA oder China. Die EU ist kein Verein, wo einer auf den Knopf drückt und dann läuft es.

General Anzeiger: Weil 27 einstimmig entscheiden müssen.

Jean Asselborn: Ja klar. Ich weiß gar nicht, wie oft ich ein Land verflucht habe, das Einstimmigkeit verhindert. Und das ist gewöhnlich immer dasselbe. Aber das sind eben die Verträge der Europäischen Union.

General Anzeiger: Von Ungarn zurück nach Deutschland. Haben Sie Verständnis für die Rufe vieler Friedensbewegter nach einem Stopp der Waffenlieferungen?

Jean Asselborn: Als Luxemburger verstehe ich die Last der deutschen Geschichte gegenüber Polen, Israel oder Russland. Aber ich halte es für unehrlich, den Menschen zu sagen: Militärisch der Ukraine zu helfen, verlängert den Krieg. Denn wenn wir nicht helfen würden, gäbe es zwar keinen Krieg mehr, aber unter welchen Bedingungen? Wir haben doch gesehen, was in Butscha passiert ist. Ähnliches würde in Kiew und anderen großen Städten des Landes geschehen. Hunderttausende würden verschwinden oder getötet werden. Und: Wo würde Putin aufhören? In der Ukraine? In Moldawien? In Georgien? Ich war gerade in Lettland: In den baltischen Ländern und in Nordeuropa herrscht große Angst. Der größte Hoffnungsträger der Menschen ist die Nato.

General Anzeiger: Jetzt wollen die Türkei und Ungarn zwar den Beitritt Finnlands, aber den Schwedens nicht.

Jean Asselborn: Wir müssen Erdogan und Orban klarmachen, dass sie nicht mit den Regierungen in Helsinki und Stockholm spielen, sondern mit der Angst der Menschen.

General Anzeiger: Wie könnte es zum Frieden in der Ukraine kommen?

Jean Asselborn: Putin müsste einsehen, dass er militärisch nicht mehr vorankommt, aber ihm scheint das Leben seiner Soldaten ja egal zu sein, wie man es an der Situation in Bachmut sieht. Ich fürchte, dass er den Krieg zumindest bis zur Präsidentschaftswahl im nächsten Jahr zieht. Für uns als EU gibt es nur den einen Weg: erstens Sanktionen, zweitens militärische Hilfen. Und drittens natürlich bereit zu sein, wenn sich ein Fenster öffnet, mit den UN dazu beizutragen, auf einen diplomatischen Weg zu kommen.

General Anzeiger: Die Ukraine will in die EU, neun andere Länder auch. Wie sehen Sie diese Perspektive?

Jean Asselborn: Wenn die zehn Kandidaten hinzukämen, wären wir 37. Aber es funktioniert oft ja jetzt schon nicht.

General Anzeiger: Ihre Alternative?

Jean Asselborn: Wir reden viel von einer CO2-freien Welt bis 2050. Wir sollten vielleicht auch darüber nachdenken, ein Europa zu schaffen mit einem Präsidenten, einer Regierung und einem Parlament. Das wäre die Aufgabe der kommenden zwei Generationen. Nicht, dass Deutschland oder Luxemburg verschwinden. Aber die Frage ist doch, ob Europa nicht so geführt werden müsste wie andere demokratische Staaten, wenn es auf dem Globus etwas zählen will.

General Anzeiger: Bei den jüngsten Wahlen sind zumeist eher die Nationalisten gestärkt worden. Ist das nicht utopisch?

Jean Asselborn: Ich setze da auf die jungen Menschen. Es ist nicht illusorisch. Ich finde, man sollte an die Chance glauben.

General Anzeiger: Vielleicht nochmal zurück zu den Mühen der Ebenen: Die Berliner Ampel-Koalition ist jetzt 15 Monate im Amt. Haben Sie den Eindruck, dass von Olaf Scholz und seiner Bundesregierung ein neuer Aufbruch für Europa kommt?

Jean Asselborn: Man darf nie vergessen, dass Europa nach dem Zweiten Weltkrieg gebaut wurde, damit sich Deutsche und Franzosen nie wieder bekriegen. Mit den Benelux-Ländern und Italien hat man vier andere mitgenommen. Das war eine gute Idee. Ganz entscheidend ist, dass wir es gemeinsam fertigbringen, die Rechtsstaatlichkeit als Grundpfeiler der EU aufrechtzuerhalten. Wenn wir die Rechtsstaatlichkeit verlieren, dann verlieren wir die Seele der Europäischen Union.

General Anzeiger: Deutschland und Frankreich waren ja auch lange der Motor der EU. Warum stottert dieser Motor derzeit?

Jean Asselborn: In der Tat: Da ist Sand im Getriebe. Nehmen Sie die Atomenergie: Es ist nicht gut für die Entwicklung der EU, wenn beide Länder da keinen Weg zusammenfinden. Als Luxemburger sage ich: Wir haben kein Recht dazu, so weiterzumachen wie bisher, weil wir noch keinen Weg gefunden haben, den Atommüll so zu entsorgen, dass spätere Generationen dadurch nicht gefährdet werden. Wir sehen das ähnlich wie Deutschland. Auch Österreich und Spanien sind dieser Überzeugung.

General Anzeiger: Aber Frankreich ist da ganz anderer Meinung.

Jean Asselborn: Ja. Wir dürfen nicht zulassen, dass zu viele Entwicklungen in der Europäischen Union durch diese unterschiedlichen Meinungen gebremst werden. Man muss sich in Deutschland und in Frankreich Gedanken machen, denn das betrifft die ganze Union. Natürlich ist es schwer, hier einen Ausweg zu finden. Aus meiner Sicht ist die Atomenergie aber keine, die man einsetzen kann, um 2050 CO2-frei zu sein.

General Anzeiger: Sie sind dienstältester Außenminister in Europa. Wie lange wollen Sie noch Politik machen?

Jean Asselborn: Im Herbst haben wir Wahlen in Luxemburg, dann schauen wir mal.

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