Interview mit Jean Asselborn im Deutschlandfunk

"Heute sind Waffen wichtiger als Sanktionen"

Interview: Deutschlandfunk (Dirk-Oliver Heckmann)

Deutschlandfunk: Herr Asselborn, US-Präsident Biden nennt Putin einen Kriegsverbrecher und einen Schlächter. Was ist er für Sie?

Jean Asselborn: Es ist erbärmlich, wie tief Russland gefallen ist unter Putin. Putin ist ein Unmensch geworden, ein Terrorist, der mit terroristischen Methoden vorgeht. Er geht vor wie der IS, die ja bekämpft werden in Syrien von den Russen. Es ist erbärmlich, wenn Putin, ein Präsident dieses großen Russlands, Kinder, Frauen, Menschen auf der Flucht, wenn er die mit Bomben niederschlägt und ihnen das Leben nimmt. Da gibt es keine Worte mehr dazu.

Deutschlandfunk: Rund um Kiew sind die russischen Truppen ganz offensichtlich weitgehend abgezogen worden. Was hat Putin vor aus Ihrer Sicht?

Jean Asselborn: Putin hat die Kriegsziele nicht erreicht. Er hat sie heruntergeschraubt, wenn ich so sagen darf. Sie wissen, dass in der Ukraine die Russen nicht als Befreier begrüßt wurden. Die Regierung in Kiew ist nicht geflüchtet und die ukrainische Armee ist nicht übergelaufen. Aber Putin ist Putin und diese Siegesfeier am 9. Mai, die ja jedes Jahr stattfindet, dafür braucht er eine Trophäe, und das ist, glaube ich, die Befreiung des Donbass, die er dann verkauft als Sieg, höchst wahrscheinlich auch Mariupol und dann auch die Brücke zur Krim.

Da sind wir und der Außenminister der Ukraine war bei uns letzte Woche, als die NATO-Außenminister sich trafen. Er hat schon damals davon gesprochen, letzte Woche davon gesprochen, dass das heftigste Kämpfe werden würden in den nächsten drei Wochen. Es werde aussehen in dieser Region vom Donbass wie im Zweiten Weltkrieg. Das sind keine Wettervorhersagen, aber das ist unendliches Leid. Ohne Grund wird das sich abspielen.

Es wird eine Hölle sein und ich glaube, dass wir alles tun müssen, auch heute, um zu helfen, dass die Ukraine sich entgegensetzen kann, wenn ich das so sagen darf. Es kann sein, dass das eine sehr wichtige oder die wichtigste Auseinandersetzung werden wird, und man kann den Ukrainern nicht verdenken, dass sie sich dagegen wehren.

Deutschlandfunk: Sollte man trotzdem Putin diese Trophäe gönnen, um Schlimmeres zu verhindern, eine Hölle zu verhindern, wie Sie gerade sagten?

Jean Asselborn: Das ist nicht an uns Außenministern der Europäischen Union, hier der Ukraine in dieser Situation, sagen wir mal, Vorschläge zu machen. Sie haben ja gesehen, was geschehen ist, wo die Russen abgezogen sind, in Butscha und in vielen anderen Städten. Ich jedenfalls will da sehr bescheiden sein.

Die Ukrainer kämpfen ja nicht nur für ihr Land; sie kämpfen für ihre Werte, für unsere Werte, für die Werte der Demokratie, für die Werte der Rechtsstaatlichkeit, für die Werte der Toleranz und des Friedens. Hier, glaube ich, sollten wir uns zurückhalten, wie oder mit welchen Methoden sie ihr Land verteidigen. Wir müssen ihnen nur helfen, dass das möglich ist. Das ist, glaube ich, unsere Aufgabe.

Deutschlandfunk: Zu den konkreten Schritten kommen wir gleich noch mal. – Der Außenminister der Ukraine, Ihr Amtskollege, der hat gestern noch einmal betont, es sei ein strategischer Fehler gewesen von Frankreich und Deutschland – er nennt die beiden Länder –, die Ukraine nicht in die NATO aufzunehmen. Der Krieg wäre sonst nämlich nicht passiert. – Hat er recht?

Jean Asselborn: Ich war 2008 persönlich dabei in Bukarest und ich sehe noch Sarkozy, Merkel, Kaczynski damals für die polnische Seite, Bush …

Deutschlandfunk: Beim NATO-Treffen damals.

Jean Asselborn: Beim NATO-Treffen in Bukarest 2008. Damals war ja die Schlussfolgerung, es ist nicht, ob die Ukraine in die NATO kommt; es ist, wann. Aber man muss auch wissen, dass damals Deutschland, Frankreich, viele anderen auch, wir in Luxemburg, Spanien, Italien und so weiter und so weiter, diesen Schritt nicht machen wollten. Wissen Sie, die Geschichte oder die Politik hat kein Laboratorium, um festzustellen, was dann geschehen wäre.

Deutschlandfunk: Trotzdem: War es ein Fehler?

Jean Asselborn: Nein! Ich glaube nicht, dass es aus dieser Sicht ein Fehler war, denn dann hätte ja etwas ausbrechen können wie jetzt schon wirklich früher, vorher. Ich glaube nicht, dass das entscheidend ist. Man weiß es nicht. Es ist schwer vorauszusagen. Aber ich bin überzeugt: Wir hatten ja damals alle im Kopf.

Vergessen Sie nicht, dass in Bukarest Putin eingeladen war, Putin war da, dass noch 2010 in Lissabon Medwedew auf dem NATO-Gipfel war. Das war eine andere Option von vielen, vielen Ländern aus dem Westen und die Amerikaner haben damals auch nicht so gepusht, dass wir eigentlich keine Alternative dazu gesehen haben.

Deutschlandfunk: Kommen wir mal zu der Frage der Sanktionen. Die ist ja weiterhin hoch aktuell. Deutschland wird von vielen Ländern als Bremser wahrgenommen. Erst hat Berlin an Nord Stream 2 festgehalten als angeblich rein wirtschaftliches Projekt. Dann hieß es, wir liefern keine Waffen in Spannungsgebiete. Stattdessen hat man 5000 Helme geschickt. Dann hat man Nord Stream 2 doch gestoppt und auch Waffen werden geliefert, allerdings vor- allem Panzer und Flugabwehrraketen, keine Panzer, keine Flugzeuge, wie von Kiew gefordert. Deutschland bremst auch bei der Frage Energieboykott. Wie sehen Sie die deutsche Rolle? Ist Deutschland ein Bremser in dem Feld?

Jean Asselborn: Ich kann mich jetzt hier wirklich nicht mit einer Kritik auf Deutschland beziehen. Wissen Sie, ich bin 18 Jahre dabei, aber ich glaube, seit dem Bestehen der Europäischen Union gab es keinen Moment, wo wir eine Einstimmigkeit hatten in der EU, auch in der NATO, eine Einstimmigkeit, Waffen zu liefern in ein Kriegsgebiet. Das ist eine total neue Situation, heraufbeschworen durch diese Barbarei, die die Russen in der Ukraine veranstalten.

Deutschlandfunk: Aber Kiew braucht mehr.

Jean Asselborn: Ja! Wir sind ja auch in einer Situation – es sind jetzt wieder 500 Millionen zur Verfügung gestellt worden –, dass wir sagen, dass die, die helfen können, auch mit schweren Waffen, dass die selbstverständlich das machen sollen.

Wir sind ja auch in einer Lage – das müssen Sie sich vorstellen –, dass heute Waffen wichtiger sind als Sanktionen. Es sind viele, die das sagen. Das ist gespenstig, wenn man das hört aus dem Mund der Europäischen Union. Wenn Sie mir das vor zwei Monaten gesagt hätten, dann hätte ich gesagt, ich bin doch nicht verrückt, aber das ist die Lage, in der wir sind.

Wissen Sie, wir haben jetzt vor allem als Europäische Union Finanzsanktionen entschieden. Um den Staatsapparat wirklich zu treffen, müssen wir auch Handelssanktionen machen, und Sie wissen, was das ist. Das ist nicht nur Kohle, das ist auch Gas und das ist auch Öl. Aber das Problem ist die erste Frage, die wichtige Frage: Wenn wir das täten, glauben Sie, das würde dann Putin eine Sekunde zum Anhalten inspirieren?

Deutschlandfunk: Das glauben Sie nicht?

Jean Asselborn: Ich glaube das nicht! Sie müssen auch verstehen und verstehen das auch in der Europäischen Union, wenn Gas geschnitten wird, dass dann vor allem ja die deutsche Industrie sehr stark getroffen wird und dass das Auswirkungen hat auf viele, viele Länder in der Europäischen Union. Ich kann mir vorstellen, die Industrie in Deutschland hat genug Kraft, um dann Kurzarbeit zu machen und so weiter, aber das wird alle Länder oder sehr viele Länder in der Europäischen Union treffen. Diese Debatte wird anfangen.

Wir haben jetzt das fünfte Paket. Das sechste Paket ist in der Debatte. Bei Kohle sind es schon acht Milliarden, die nicht mehr an die Russen bezahlt werden durch diesen Kohlestopp, und wir müssen jetzt schauen, wie die Debatte weitergeht. Über Öl, glaube ich, könnte es möglich sein bis Ende des Jahres, aber Gas ist ein großes Problem.

Deutschlandfunk: Ist das nicht viel zu spät, Herr Asselborn, Ende des Jahres? Ist das ethisch und praktisch wirklich vertretbar, den Krieg gegen die Ukraine faktisch mitzufinanzieren?

Jean Asselborn: Wenn das so einfach wäre, Herr Heckmann? Ich glaube daran nicht. In Deutschland läuft diese Debatte ja, wenn wir jetzt Öl und Gas stoppen, dann ist der Krieg vorüber, dann ist Putin geblockt. Das ist falsch! Ich glaube, das ist total falsch! Dem ist das in diesem Moment egal. Der hat noch so viele Reserven.

Sie haben ja gesehen, dass sogar der Rubel sich stabilisiert hat, weil die Importe, die Russland tätigt, gefallen sind. Ich glaube nicht daran und darum müssen wir jetzt das machen, was gegen die Natur des Friedensprojekts Europäische Union geht. Wir müssen den Ukrainern helfen mit dem, was ich gesagt habe, nämlich dass sie genug Mittel haben, um sich zu wehren – vor allem das, was auf sie zukommt jetzt im Donbass und natürlich auch in Mariupol.

Deutschlandfunk: Einiges hängt auch von dem Ausgang der Präsidentschaftswahl in Frankreich ab. Gestern die erste Runde, Macron und Le Pen werden in die Stichwahl einziehen. Ihre Reaktion darauf?

Jean Asselborn: Ja! Es ist so, dass Le Pen gewinnt oder gewinnen könnte, hat ja Macron selbst auch nicht ausgeschlossen. Wir werden jetzt, glaube ich, zwei Strategien sehen. Le Pen wird sagen, 72 Prozent haben gegen Macron gestimmt und wir wollen ein Referendum Anti Macron, was natürlich Blödsinn ist, denn es sind ja auch 77 Prozent, die gegen sie gestimmt haben.

Macron wird versuchen, das was auf Französisch Front Republicain heißt, alles gegen rechtsaußen auf die Waage zu legen. Frankreich, glaube ich, muss für die Zukunft sich Gedanken machen über das Wahlsystem, ob man nicht auf den Proporz hingehen muss.

Wir schauen ja auch viel französisches Fernsehen. Wenn Sie gestern Abend geschaut haben: Das ist wie in einem politischen Bürgerkrieg, und das, glaube ich, muss Macron auch einsehen und versuchen, das zu lösen für die nächsten Wahlen.

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