Interview von Jean Asselborn im WESER KURIER

"Damit dürfen wir uns nicht abfinden"

Interview: WESER KURIER (Detlef Drewes)

WESER KURIER: Herr Asselborn, in der Coronavirus-Krisegibt die EU kein gutes Bild ab, manche sagen, sie habe versagt. Sehen Sie das auch so?

Jean Asselborn: Um fair zu sein, muss man zunächst feststellen: Die Gesundheitspolitik liegt in der alleinigen Verantwortung der Mitgliedstaaten. Das Virus stellt alle vor eine völlig neue Herausforderung. Es gibt keinen lebenden Menschen, der so etwas schon einmal erlebt hat.

WESER KURIER: Trotzdem wäre Abstimmung nötig und möglich gewesen - zum Beispiel in der Frage der Grenzschließungen. Da hat jeder gemacht, was wer wollte.

Jean Asselborn: Es bleibt richtig, dass die EU Ende März beschlossen hat, die Außengrenzen zu schließen. Für mich war damit Ende März eigentlich klar: Wenn wir diesen Schritt tun, bleiben die Grenzen zwischen den Mitgliedstaaten offen. Es ist bis heute nicht nachvollziehbar, warum Grenzschutzbeamte nun Autos anhalten und Personen kontrollieren. Das Virus lässt sich so sicher nicht bekämpfen. Ich habe diese Reaktion der Regierungen, auch von deutscher Seite, nicht verstanden. Heute haben wir ein völlig chaotisches Bild: Die Grenzen zwischen Frankreich und Luxemburg sind geschlossen. Aber die Übergänge zu Belgien, wo die Lage viel schlimmer ist, sind offen. So etwas ist natürlich schwer zu vermitteln. Und wenn man sich dann noch erinnert, dass EU-Bürger aus aller Welt nach Europa zurückgeholt wurden, anschließend aber tagelang nicht in ihre Heimat weiterreisen konnten, muss man nüchtern feststellen: Das ist nicht der Geist von Schengen und auch nicht der von Europa.

WESER KURIER: Fehlt es auch in den Reihen der Staats- und Regierungschefs an Solidarität?

Jean Asselborn: Das ist, wenn Sie das so absolut sagen, falsch. Das menschliche mitfühlende Europa funktioniert. Deutschland und Luxemburg haben Patienten aus Frankreich in ihre Kliniken geflogen und behandelt. Andere haben es ähnlich gemacht. Diese mitfühlende Seite der europäischen Solidarität ist beispielhaft. Allerdings muss ich auch sagen, dass das institutionelle Europa den Bürgern manchmal die kalte Schulter gezeigt hat. Darüber müssen wir in der EU noch reden.

WESER KURIER: Welche Lehren sollten die EU jetzt ziehen?

Jean Asselborn: Ganz sicher müssen wir über die Abhängigkeit Europas von anderen Staaten bei der medizinischen Ausrüstung diskutieren und Konsequenzen ziehen. Das darf nicht so bleiben. Noch vor zehn Jahren hätte Europa in so einer Krise Medikamente und Masken nach China geliefert. Heute ist es umgekehrt. Das dürfen wir nicht einfach hinnehmen.

WESER KURIER: Nun geht es um den Wiederaufbau - und schon wieder wird über die diversen Bonds gestritten. Sind Wiederaufbau-Bonds ohne gemeinsame Haftung der richtige Weg?

Jean Asselborn: Die Finanzminister haben hervorragende Arbeit geleistet, als sie ein Hilfspaket über 540 Milliarden Euro geschnürt haben. Das gilt auch für die Europäische Zentralbank, die ja ein 750-Milliarden-Euro-Programm aufgelegt hat.

WESER KURIER: Aber viele südliche EU-Staaten wollen kein Geld vom ESM-Rettungsfonds.

Jean Asselborn: Das stimmt. Wenn die ESM hören, denken sie an die Troika und somit an Sanktionen wie damals in Griechenland. Und wenn in Deutschland das Wort "Bonds" fällt, reagieren viele höchst allergisch und zeigen einen politischen Abwehrreflex. Davon müssen wir wegkommen. Diese Krise betrifft jedes Land, wenn auch in unterschiedlicher Weise. Es gibt nur Opfer. Alle müssen kämpfen, um die Probleme zu bewältigen. Deshalb sollten wir uns diese Woche auf die Recovery-Bonds konzentrieren. Denn sie schaffen Kapital für Investitionen. Es bringt nichts, wenn die einen dauernd sagen "Wir brauchen Euro-Bonds" und die anderen antworten "Euro-Bonds kommen nicht infrage". Solche Streitereien sind kindisch. Das müssen alle wissen - auch Deutschland. Ihr Land kann nur erfolgreich sein, wenn es seine Exportpolitik wiederaufnehmen kann. Aber dafür braucht es eben auch kapitalkräftige Abnehmer und einen funktionierenden Binnenmarkt. Den gibt es aber nicht, wenn in Italien oder Spanien die Arbeitslosenquoten auf 20 oder 30 Prozent hochschnellen. Mein Appell an die Mitgliedstaaten lautet: Zieht endlich an einem Strang. Die Recovery-Bonds sind ein gutes Projekt.

WESER KURIER: Ungarn hat die Gunst der Stunde genutzt, um dem Premierminister praktisch unbegrenzte Vollmachten zu geben. Wie soll die EU jetzt reagieren?

Jean Asselborn: Ich erlebe als Außenminister seit 2010 die Evolution in der ungarischen Politik. Es geht alles in die gleiche Richtung: Schwächung der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie. Artikel 2 der europäischen Verträge sagt, dass diese Union auf Demokratie aufgebaut ist. Damit kann man nicht spielen. Es ist in der EU in jeder Hinsicht unerträglich, wenn in Ungarn eine Machtfülle geschaffen wird, die nicht begrenzt wurde und die auch nicht rechtsstaatlich kontrolliert wird, sondern die Kritiker wie zum Beispiel in der Presse mundtot macht. Das dürfen wir Europäer uns nicht gefallen lassen. Um es anders zu sagen: Wir haben in der EU ein Land mit am Tisch sitzen, dessen Regierung nicht mehr parlamentarisch kontrolliert wird. Damit dürfen wir uns nicht abfinden.

WESER KURIER: Die EU-Kommission hat dazu wenig gesagt...

Jean Asselborn: Die Kommission darf nicht wegschauen. Und auch nicht zögern. Hier steuert ein System immer weiter in die Richtung eines Illiberalismus, was nichts mehr zu tun hat mit Demokratie, Freiheit der Presse oder Gewaltenteilung. Wir dürfen das nicht hinnehmen.

WESER KURIER: Luxemburg hat am vergangenen Wochenende - ebenso wie Deutschland - die ersten unbegleiteten Flüchtlingskinder von griechischen Inseln übernommen. Was erwarten Sie jetzt von den anderen EU-Partnern?

Jean Asselborn: Ich setze sehr darauf, dass Länder wie Irland, Portugal und Finnland und auch die Schweiz noch mitziehen. Meine große Hoffnung ruht auch auf Frankreich. Deutschland hat ja ebenfalls noch weitere Übernahmen unbegleiteter Minderjähriger angekündigt. Lassen Sie mich ganz persönlich hinzufügen: Ich habe die Kinder, die nach Luxemburg geflogen wurden, am vergangenen Sonnabend besucht. Die haben Furchtbares mitgemacht. Ein 13-jähriges Mädchen mit seinem elfjährigen Bruder gehörte dazu, und das Mädchen hat erschütternde Erlebnisse geschildert. Nun kommen sie, sogar mit viel Elan, um ihre große Chance in Europa zu nutzen. Wir können helfen, und wir Europäer sollten das tun.

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