Interview von Jean Asselborn im Deutschlandfunk

"Unheilige Allianz" zwischen Putin und Erdogan

Interview: Deutschlandfunk (Silvia Engels)

Deutschlandfunk: Sie haben ebenso wie andere schon vor Wochen vorgeschlagen, zumindest Kinder aus den Lagern, zum Beispiel auf den griechischen Inseln, in anderen EU-Staaten aufzunehmen. Am Dienstag hatte da auch der deutsche Bundesinnenminister Seehofer zugestimmt, rund 5000 Kinder und Jugendliche aus griechischen Lagern innerhalb der EU zu verteilen, aber nur, wenn sich auch andere EU-Länder daran beteiligen. Erkennen Sie mittlerweile Bewegung in mehreren EU-Staaten, das zu ermöglichen?

Jean Asselborn: Ich glaube, zuerst müssen wir schauen: Selbstverständlich Solidarität mit Griechenland. Das haben wir gestern bewiesen. Aber man muss natürlich, wie Sie das richtig sagen, auch hinter die Grenzen schauen. Man kann nicht nur auf die Grenze schauen. Wenn man in das Land, in die Türkei hineinschaut, dann geht es mit großer Wahrscheinlichkeit den Menschen rund um Idlib sehr, sehr schlecht.

Die Menschen, die in Edirne sind, an der Landgrenze — viele Afghanen, Somalier, Bangladeschi und so weiter, keine Syrer —, das sind arme Menschen. Aber ich glaube, die müssen nicht so viel ertragen — das sollen 13.000 sein — wie die, die auf den Inseln sind.

Ich kenne dieses Bild der Inseln. Ich war 2015 ein paar Mal, als wir die Präsidentschaft hatten, da. Die Bilder sind wieder dieselben. Wir reden jetzt seit Monaten über, was können wir für die Kinder, die alleine in Moria auf Lesbos sind, tun.

Das institutionelle Regelwerk der Europäischen Union sagt, dass die Kommission Vorschläge zu machen hat. Das ist ein Initiativrecht, könnte auch manchmal eine lnitiativpflicht sein, aber ich weiß nicht warum, aber es kommt nichts. Darum glaube ich, als meine Wenigkeit, habe ich mir gestern gedacht, nachdem der griechische Außenminister noch einmal mit mir gesprochen hat und sein Leid geklagt hat, dass wir jetzt vielleicht als einige Länder vorgehen müssen. Ich habe dann den Vorschlag gemacht, dass pro halbe Million Einwohner der Länder der Europäischen Union wir zehn dieser Kinder, dieser Jugendlichen aufnehmen könnten, und zwar direkt und sehr schnell. Damit hätten wir, glaube ich, viel Leid gelöst.

Deutschlandfunk: Aber haben Sie dafür Zustimmung innerhalb genügend EU-Ländern, damit da wirklich auch eine große Gruppe herauskommt?

Jean Asselborn: Ich wollte sagen, viel Leid hätten wir gelöst und diesen Kindern hätten wir eine Chance gegeben, ein normales Leben wieder zu führen. Was ich gestern auch von Herrn Seehofer gehört habe, dass eine Bereitschaft besteht, dass auch viele, wenn ich richtig verstanden habe, Bundesländer oder sogar Städte Initiativen aufnehmen würden. Ich habe auch von Finnland gehört, dass sie mitmachen würden. Die Franzosen sind nicht abgeneigt. Wir sind wieder bei den Ländern, die in der Regel Menschen aufnehmen, die auf dem Mittelmeer gerettet werden und in einen Hafen kommen. Es sind wieder dieselben, die da hinhalten müssen.

Ich will hier sagen, dass es natürlich den Pull-Effekt gibt, dass das wieder neue Menschen anzieht. Wenn das die Regel ist in der Europäischen Union, dann können wir nichts mehr machen. Dann würden die Kinder verkümmern und die letzte Menschlichkeit wird sich über die Berge hinwegmachen. Ein Land wie Österreich zum Beispiel, was ja auch wie wir Deutsch redet, die sind eigentlich sehr, sehr Vorreiter dieser Idee, dass man nichts machen soll. Ich hoffe, dass sich auch in diesem Land, wo ja die Grünen in der Regierung sind — der Bundespräsident ist ein Grüner —, dass hier ein wenig aber auch Vernunft eintritt und ein wenig Bewegung eintritt. Sie haben recht: Je mehr Länder es sind, desto besser ist das.

Aber gut, da kann man keinen forcieren.

Deutschlandfunk: Im Moment gewinnt man etwas das Gefühl, dass die Aufnahme nicht mehr so sehr im Mittelpunkt steht wie die Abschottung. Abgewiesene Flüchtlinge erheben ja den Vorwurf, sie würden geschlagen. Die Überhärte, die man den Griechen vorhält, auf der anderen Seite Griechenland, das einen Monat lang keine Asylanträge mehr annehmen will. Bundesinnenminister Seehofer und seine Kollegen nannten das gestern angesichts der besonderen Situation in Ordnung. Ist Abschottung jetzt der neue Kurs, nicht mehr Aufnahme?

Jean Asselborn: Ich will das nicht auf Griechenland beziehen. Wissen Sie, der große Unterschied zwischen 2015 und 2020 ist generell in Europa, dass wir 2015 geschaut haben, wie können wir öffnen, und jetzt schauen wir, wie können wir zumachen. Das ist ein Grundunterschied.

Was die Griechen angeht, muss man ein wenig verstehen. Es nutzt nichts, wenn wir hier am Telefon jetzt über Griechenland und die Griechen kritisieren. Die sind mit einer Aufgabe konfrontiert, die gewaltig ist. In der Türkei werden Busse gechartert, um die Menschen entweder an die Landgrenze zu bringen — da sind aber nicht so viele — und jetzt ans Meer zu bringen. Man stellt ihnen Schiffe zur Verfügung, um auf die Inseln zu kommen. Das ist eine sehr, sehr bedrückende und erschreckende Entwicklung, die dort stattfindet, und darum habe ich jedenfalls von meiner Seite gestern Abend in der Sitzung gesagt, dass wir alle in der Europäischen Union die Genfer Konfession respektieren müssen. Das hat Griechenland auch zugesagt.

Ich glaube — Sie haben auch von diesem Monat aussetzen gesprochen —, dass sobald es wieder Normalität gibt, dass selbstverständlich auch die Griechen zu internationalem Recht stehen. Aber vergessen wir nicht, in welcher schwierigen Lage die Griechen zurzeit sind.

Deutschlandfunk: Dann sprechen wir das Land an, was Sie eben schon erwähnt haben: die Türkei, der ja dafür Vorwürfe gemacht werden, dass sie im Moment die Flüchtlinge dazu nutzt, um den Druck auf die EU zu erhöhen. Nun droht EVP-Fraktionschef Manfred Weber der Türkei mit einer Aussetzung der Zollunion, falls sie weiter Flüchtlinge in Richtung EU ziehen lässt. Stimmen Sie zu?

Jean Asselborn: Ich glaube, dass man mit Sanktionen und mit Drohungen — ich verstehe Herrn Weber, aber ich glaube nicht, dass sich da etwas enteisen lässt. Wir kennen die Situation von Herrn Erdogan. Heute ist er ja beim Präsidenten Putin. Ich will das nicht negativ oder zu negativ kommentieren, aber das ist ja auch eine gewisse unheilige Allianz, wenn man so sagen darf. Es sind zwei Länder, die eigentlich eine multidirektionelle Ausrichtung haben und trotzdem zusammen am Sofa sitzen und verkünden, was zu tun ist. Wir haben das gesehen in Libyen, wo ja die Türkei Sarradsch unterstützt und Russland Haftar unterstützt, aber beide sitzen zusammen und sagen der Welt, was zu geschehen hat.

In Syrien wissen wir, dass Präsident Putin eigentlich der Orchesterchef ist und Erdogan ist etwas wie eine Art Paukenschläger. Darum müssen wir einwirken, glaube ich, vor allem auf Präsident Putin. Wir haben zwei starke Regierungschefs der stärksten Länder, Herr Macron und Madame Merkel, die wirklich Putin in die Verantwortung nehmen müssen und sagen, er hat den Schlüssel.

Deutschlandfunk: Sie sprechen von Einwirken. Sollen das im anderen Fall, dass er sich auf Einwirken allein nicht einlässt, auch neue Sanktionen sein?

Jean Asselborn: Ich bin kein Freund von diesen Dingern.

Deutschlandfunk: Aber es könnte Bewegung bringen.

Jean Asselborn: Aber wir haben Jahrzehnte zum Beispiel Mugabe in Simbabwe sanktioniert und das hat überhaupt nichts gebracht — nur das Gegenteil. Wir wissen, die Sanktionen gegenüber Russland — das ging nicht anders, das müssen die Russen auch sehen, dass wir auch von ihrer Seite Bewegung haben müssen, um wieder Normalität zu schaffen. Aber wenn wir in dieser schwierigen Lage noch Sanktionen draufsetzen — ich bin nicht davon überzeugt.

Ich weiß aber eins: Ich war am letzten Freitag in Moskau, habe mit Außenminister Lawrow lange gesprochen, ein Profi. Sie müssen wissen, dass der Satz, dass die Integrität Syriens, dass das für die Russen das Wichtigste ist. Das heißt auf Deutsch, nach dem Krieg ist kein Platz für andere Mächte in Syrien, auch nicht für die Türkei. Das, glaube ich, muss man auch der Türkei sagen.

Das Zweite, was Sie gesagt haben, das sind zum Beispiel diese 30 Soldaten, die gestorben sind. Die waren nicht für die Russen an dem Ort, wo sie sein sollten, die türkischen Soldaten. Darum ist das geschehen, was geschehen ist.

Ich glaube wirklich, dass wir als Europäische Union uns politisch einbringen müssen, dass wir, was Borrell sagt, ganz richtig die humanitäre Lage in Idlib mit der UNO zusammen, dass wir das verbessern.

Deutschlandfunk: Dazu noch, weil uns nicht mehr viel Zeit bleibt, die letzte kurze Frage. Die Türkei setzt ja schon lange auf EU-Unterstützung bei ihrem Plan, Flüchtlingslager in Nordsyrien einzurichten, Schutzzonen zu errichten. Sollten sich die Europäer darauf einlassen?

Jean Asselborn: Nein! Das können wir nicht tun. Wir können nicht zulassen, dass in Syrien, dass dort Regionen freigemacht werden, auch noch vielleicht militärisch, um Menschen zu verpflanzen aus der Türkei nach Syrien. Das ist etwas, was unsere Auffassung der Werte nicht zulässt.

 

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