Interview von Jean Asselborn im Luxemburger Wort

"Der Ausdauernde"

Interview : Luxemburger Wort (Patrick Besch)

Luxemburger Wort: Jean Asselborn, was fällt Ihnen im Moment schwerer: Eine Stimme der Vernunft in Europa zu sein oder den Mont Ventoux zu erobern?

Jean Asselborn: (lacht) Bin ich wirklich eine Stimme der Vernunft in Europa?
Sich im Moment in Europa wiederzufinden, in dieser ganzen Nervosität, finde ich schwieriger, als den Ventoux hinaufzufahren.

Luxemburger Wort: Bereitet Ihnen das Erstarken der rechtspopulistischen Kräfte in Europa Sorgen? Erst vor ein paar Wochen hat die AfD in Ostdeutschland zweistellige Resultate bei den Wahlen eingefahren.

Jean Asselborn: Zuerst einmal darf man solche Resultate auf keinen Fall banalisieren. Nicht alle Menschen, die AfD wählen, sind Nazis. Aber eine ganze Reihe ihrer Wähler stehen offen zu den Nationalsozialisten. Für mich wird da eine Grenze überschritten, die man nicht überschreiten darf, besonders in einem Landwie Deutschland. Mit ihren besorgniserregenden Auftritten verstoßen diese Gesellen schließlich auch gegen das Grundgesetz, das seinen Ursprung im Kampf gegen Hass, Intoleranz, Xenophobie und Nationalismus in Deutschland hat. Dass mit der AfD eine Partei mit offizieller Stimme das Holôcaust-Denkmal in Berlin als Schandfleck bezeichnet, bereitet mir schon große Sorgen. Ich bin aber auch der Meinung, dass mittlerweile alle anderen Parteien sowie ein Großteil der Bevölkerung in Deutschland die Gefahr erkannt haben, die von der AfD ausgeht.

Luxemburger Wort: Was kann man gegen solche Strömungen unternehmen? Ein Allheilmittel scheint es nicht zu geben.

Jean Asselborn: Es gibt kein Allheilmittel, das stimmt. Hier helfen eigentlich nur die Intelligenz und der gesunde Menschenverstand. Man muss das Problem direkt ansprechen, den - Menschen in Deutschland zum Beispiel immer wieder die Vergangenheit vor Augen führen, wozu rechte Parteien fähig sind, wohin der Weg mit ihnen führen kann. Ich warne deshalb auch immer vor dem Zurückfallen in nationalistische Gefühle, denn damit hat in den 1930er-Jahren alles begonnen. Wir dürfen nicht schlafwandelnd in solch eine Situation zurückkehren.

Luxemburger Wort: Können die Rechtspopulisten denn langfristig Erfolg haben?

Jean Asselborn: Ihr Erfolg beruht ja nicht nur rein auf dem sozialen Einbruch, wie dies in den 1930er-Jahren der Fall war, sondern erklärt sich auch aufgrund einer Reihe anderer Faktoren, wie der Individualisierung, dem Klimawandel oder der Migrationspolitik. Das Fehlen einer einheitlichen und gerechten Verteilung der Flüchtlinge in Europa zum Beispiel hat den Rechtspopulisten einen Nährboden geboten. Nur wenn die Europäische Union diese Probleme lösen kann, werden die Rechtspopulisten keinen weiteren Erfolg haben. Europa muss versuchen, die Unzufriedenheiten, aus denen sich solche Parteien herauskristallisieren, aus der Welt zu schaffen.

Luxemburger Wort: Matteo Salvini, zu dem Sie eine spezielle Beziehung haben, ist, bis auf Weiteres, von der Bühne verschwunden. Sehen Sie darin eine Bestätigung, dass eine solche Politik keinen Erfolg haben kann?

Jean Asselborn: Salvini hat sich selbst schachmatt gesetzt. Das hat mit Europa herzlich wenig zu tun, er hat sich sein eigenes Grab in Italien gegraben. Übrigens hoffe ich, dass es einem anderen, der jedoch Englisch spricht, genauso ergehen wird. Noch ist nicht sicher, ob Salvinis Karriere endgültig beendet ist. Die Mehrheit der italienischen Wähler kann sich noch immer mit seiner Politik anfreunden. Die neue Regierung bietet jedoch neue Möglichkeiten. Es wäre ein Fehler, die Italiener in der Flüchtlingsfrage wieder alleine zu lassen. Sie übernahmen bis jetzt einen Großteil der Arbeit, zusammen mit Griechenland.

Luxemburger Wort: Stört es Sie denn nicht, dass Luxemburg als Mitglied der Europäischen Union Politikern wie Kaczynski, Orbân, Salvini, Farage oder Le Pen eine Bühne für ihre Ideen bietet?

Jean Asselborn: Die Europäische Union ist eine Bühne, auf der sich jeder, der Verantwortung für sein Land trägt, hervorbringen kann. Darin unterscheidet sie sich ja von anderen politischen Systemen, wie etwa dem Kreml zu Zeiten der Sowjetunion. Natürlich ist auch jeder Auftritt auf der Bühne der EU an bestimmte Regeln gebunden. Hier steht der Gemeinschaftsgedanken an vorderster Stelle. Auf diese gegenseitige Solidarität muss sich jedes Land verlassen können, besonders wenn es Problemen ausgesetzt ist die es alleine nicht lösen kann. Sollte dieses europäische Einmaleins weiter missachtet werden, etwa durch eine Rückkehr verschiedener Staaten zum Unilateralismus, dann steht die Zukunft der Union auf dem Spiel.

Luxemburger Wort: Auch der Brexit stellt die europäische Idee auf eine harte Probe. Erstaunlich sind jedoch nicht nur die Vorgänge in Großbritannien, sondern auch der Zusammenhalt der verbleibenden 27 EU-Mitglieder. Selten waren Sie sichrin einer Frage ähnlicher Meinung. Die Chance für einen Neuanfang?

Jean Asselborn: Absolut. Bis jetzt haben die 27 verbleibenden Mitgliedsstaaten sich als Einheit präsentiert, sie standen im Scheidungsakt zusammen. Dass wir das geschafft haben, wundert mich nicht. Spannender wird es in der zweiten Phase, also wenn Großbritannien ausgeschieden ist. Dann wird sich zeigen, ob die Spannungen zwischen den Mitgliedsstaaten nicht größer werden, denn schließlich verfolgt jedes Land andere Interessen in seiner zukünftigen Beziehung zum Vereinigten Königreich.

Luxemburger Wort: Als Pro-Europäer kann man dem Brexit auch abgewinnen, dass er jenen Parteien, die auch ihre Länder aus der EU führen wollen, den Mut genommen hat.

Jean Asselborn: Das stimmt. Sogar Le Pen hat mit ihrer Frexit-Forderung aufgehört. Diese Stimmen sind in ganz Europa verstummt. Trotzdem schadet der Brexit der EU. Europa ohne Großbritannien ist strategisch geschwächt. Für keine der beiden Seiten bringt die Scheidung Vorteile. Ich bin davon überzeugt, dass eine blutige Trennung, also ein No-Deal, Wunden aufreißen wird, die noch jahrelang bluten werden.

Luxemburger Wort: Behält man da als Außenminister überhaupt noch den Durchblick?

Jean Asselborn: Während ich noch den Durchblick zu den vergangenen Geschehnissen habe, glaube ich, dass es unmöglich ist, irgendetwas zum Brexit voraussagen zu können. Niemand weiß, wie es im Oktober weitergehen wird. Am meisten bestürzt mich die Tatsache, dass der Brexit auf Lügen basiert. Es bleibt zu hoffen, dass die Lösung nicht erneut auf Lügen aufbauen wird.

Luxemburger Wort: Eventuell gibt es dann irgendwann nur noch 27 EU-Staaten. Vor wenigen Tagen war die serbische Premierministerin in Luxemburg zu Besuch. Wie sieht es aus mit Unionserweiterungen? Kann die EU diese im Moment überhaupt verkraften?

Jean Asselborn: 2003 wurde in Thessaloniki entschieden, dass jedes Land, das die Kopenhagener Kriterien erfüllt, der Europäischen Union beitreten darf, wenn es das will. An dieses Versprechen müssen wir uns halten. Für ein Land wie Serbien, aber auch die anderen Staaten im Westbalkan, ist ein Beitritt jedoch nur möglich, wenn die Stabilität in der Region garantiert ist. Dafür muss aber die Kosovo-Frage gelöst werden.
Aber auch für die anderen Länder der Region, allen voran Bosnien-Herzegowina, ist ein EU-Beitritt noch nicht absehbar. Die Europäer müssen sich jedoch darum bemühen, dass sich die Region stabilisiert, denn schließlich handelt es sich um den Vorgarten Europas.

Luxemburger Wort: Was erwarten Sie sich von der neuen Kommission? Welchen Weg muss sie einschlagen, will sie die Union stabilisieren?

Jean Asselborn: Was jetzt zählt, sind die Ziele, die sie sich setzt. Meiner Meinung nach gibt es fünf Hauptaktionsfelder: der Klimawandel, die sozialen Fragen, die Migration, die Rechtsstaatlichkeit sowie der Multilateralismus. Beim Klimawandel gibt es mit 2020 und 2050 zwei wichtige Daten zu beachten. Die heutige Generation ist dazu verpflichtet, so zu handeln, dass die Welt für die kommenden Generationen noch bewohnbar ist.
Egal ob mit oder ohne die USA, die aus dem Pariser Klimavertrag ausgestiegen sind, müssen konkrete Maßnahmen getroffen werden. In der Sozialpolitik muss die Kommission ebenfalls handeln. Hier wäre ein europaweiter, an jedes Land, angepasster Mindestlohn ein großer Schritt. Im Moment gibt es keine europäische Migrationspolitik, das ist ein Problem. Wären wir heute mit einer Migrationswelle wie 2015 konfrontiert, dann wären wir noch viel weniger darauf vorbereitet. Auch die weitere Schließung unserer Grenzen ist keine Lösung. Wir sind dazu verpflichtet, Menschen, die verfolgt werden, aufzunehmen, und müssen deshalb auch legale Wege der Migration schaffen. Die neue Kommission muss sich zudem vermehrt um die Rechtsstaatlichkeit in Europa kümmern, also dass die europäischen Verträge eingehalten werden. Das Gleiche gilt übrigens auch beim Multilateralismus, an dem für Europa kein Weg vorbeiführt.

Luxemburger Wort: Multilateralismus ist ein gutes Stichwort. Auch bei vielen internationalen Partnern der EU brennt es. Ist es noch vertretbar, dass die EU Handelsverträge mit Ländern wie den USA, der Türkei oder Brasilien anstrebt?

Jean Asselborn: Ein Handelsabkommen beschränkt sich ja nicht nur auf die wirtschaftliche Dimension. Man versucht ja gleichzeitig, auch ideologisch näher aneinanderzurücken. Mit Ländern wie Kanada ist das natürlich einfacher, bei den Mercosur-Staaten (Bezeichnung für den "Gemeinsamen Markt Südamerikas", d. Red.) umso schwieriger. Dennoch wäre es im Interesse beider Seiten, nach 20 Jahren Verhandlungen endlich zu einem Abkommen zu kommen. Natürlich bin ich mir bewusst, dass es fundamentale Kritiken an diesen Abkommen gibt, bin aber auch davon überzeugt, dass es Lösungen gibt. Im Falle des Mercosur-Abkommens kann es aber nur zu einer Übereinstimmung kommen, wenn alle Partner die Pariser Klimarichtlinien respektieren. Dies ist jedoch momentan in Brasilien nicht der Fall, womit wir weit vom Ziel entfernt sind.

Luxemburger Wort: Welche Rolle muss die EU in dieser Weltordnung spielen?

Jean Asselborn: Die EU ist die reichste Region der Welt. Hiermit meine ich nicht nur die Wirtschaftsleistung, sondern auch die sozialen Standards, die Kultur und die Geschichte. Vor 2012 bin ich fünf Jahre um die Welt gereist, um Stimmen für die Kandidatur Luxemburgs für den Weltsicherheitsrat zu sammeln. In allen Ecken und Enden der Welt bin ich Menschen begegnet, die sich an den EU-Standards orientiert haben. Diese Vorbildfunktion muss die EU wieder einnehmen. Deshalb kann es nicht sein, dass ihre Mitglieder gegen Werte wie Rechtsstaatlichkeit oder Pressefreiheit verstoßen.

Luxemburger Wort: Welche Rolle muss Luxemburg einnehmen?

Jean Asselborn: Der luxemburgische Außenminister hätte ohne die Europäische Union keine Bedeutung. Er würde irgendwo in einer dunklen Ecke schmoren. Europa ist unsere Zukunft und die müssen wir verteidigen.

Luxemburger Wort: Und dieser Aufgabe sind Sie noch nicht müde?

Wer sich Wahlen stellt, gewählt wird und vom Großherzog in eine Regierung gerufen wird, der muss seine Aufgaben erfüllen. Natürlich würde ich an manchen Tagen lieber von morgens bis abends Rad fahren. Ich bin jedoch weder amtsmüde noch verdrossen. Und obwohl ich manchmal bestimmt etwas zu spontan reagiere, hilft mir meine Erfahrung enorm.

 

Zum letzten Mal aktualisiert am