"EU soll neue Seerettungsmission starten"

Interview von Jean Asselborn in der Welt

Interview: Die Welt (Christophe B. Schiltz)

Die Welt: Ist die EU-Außenpolitik so schwach, wie allgemein behauptet wird?

Jean Asselborn: Im Grunde ist das so. Und wir müssen uns sehr ernsthaft fragen: Will Europa ein außenpolitischer Zwerg bleiben? Europa ist wirtschaftlich stark. Aber wir machen uns sehr klein und existieren praktisch nicht, solange die Europäische Union in der Außenpolitik nicht mit einer Stimme spricht.

Die Welt: Was meinen Sie genau?

Jean Asselborn: Die Voraussetzung dafür, dass die EU in der Außenpolitik Gewicht bekommt, ist, dass wir in kapitalen Fragen eine gemeinsame Position vertreten. Das gelingt heute nicht mehr.

Die Welt: Könnten Sie Beispiele nennen?

Jean Asselborn: Ich gebe Ihnen drei Beispiele aus jüngster Zeit: Mit Blick auf die Ereignisse in Venezuela ist die EU wochenlang herum-geeiert. Beim UN-Migrationspakt waren die Europäer gespalten, sogar die damalige EU-Ratspräsidentschaft hat dem Pakt nicht zugestimmt - unglaublich. Und ein drittes Beispiel: Zwischen 2009 und 2017 sind die Europäer immer für eine Zweistaatenlösung im Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern eingetreten. Heute sind wir in dieser Frage uneinig, ebenso über die Grenzfrage und den Status von Jerusalem. Wie wollen wir da international eine Rolle spielen?

Die Welt: Würde eine "Armee der Europäer" helfen, wie sie Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, die ja auch Kandidatin für das Amt des Kommissionschefs ist, seit Langem vorschlägt?

Jean Asselborn: Wir wollen künftig in militärischen und sicherheitspolitischen Fragen enger kooperieren. Diese "strukturierte Zusammenarbeit" ist ein wichtiger Schritt. Wir dürfen uns Europa nach den zwei Weltkriegen aber auch nicht vorstellen als einen Kontinent mit einer bombastischen Armee, die konkurrieren kann mit den Großmächten dieser Welt. Aber das will ja auch niemand ernsthaft. Für unsere Verteidigung ist und bleibt die Nato zuständig.

Die Welt: EU-Soldaten haben auch bei der Bekämpfung von Schleusern und der Rettung von Menschenleben auf dem Mittelmeer eine Rolle gespielt. Im März wurde diese Mission mit dem Namen "Sophia" weitgehend eingestellt. Seitdem retten nur noch vereinzelt private Organisationen, deren Schiffe aber häufig wochenlang im Mittelmeer herumirren, weil sie nirgendwo anlegen dürfen. Was tun?

Jean Asselborn: Es ist in der derzeitigen Kriegslage in Libyen unausweichlich, dass Menschen versuchen, über das Mittelmeer aus dem Land- zu fliehen. Die Europäische Union sollte schnell mit Schiffen der Mitgliedstaaten eine neue EU-Seerettungsmission im zentralen Mittelmeer starten, um Flüchtlinge und Migranten vor dem Ertrinken zu retten.

Die Welt: Aber wer soll die Geretteten aufnehmen? Malta und Italien fühlen sich überfordert, solange andere EU-Länder nicht bereit sind, Migranten aufzunehmen.

Jean Asselborn: Die geretteten Menschen könnten in Häfen am Mittelmeer, die zuvor als Aufnahmeplätze festgelegt worden sind, gebracht werden. Diese Häfen sollten nicht nur in Italien liegen. In diesen Häfen müssten geschlossene Aufnahmestrukturen eingerichtet werden. Dort sollte dann darüber entschieden werden, ob die Geretteten Anspruch auf Asyl nach der Genfer Konvention haben.

Die Welt: Aber das klappt doch nur, wenn alle EU-Länder auch mitmachen.

Jean Asselborn: Es geht hier nicht um Hunderttausende oder Zehntausende, sondern lediglich um einige Tausend Menschen im Jahr. Wer schutzbedürftig ist, soll nach einem vorher festgelegten Schlüssel, der sich an der Einwohnerzahl und Wirtschaftskraft eines Landes orientiert, auf alle 28 EU-Staaten verteilt werden. Wir brauchen jetzt ganz schnell eine Einigung in dieser Frage.

Die Welt: Kürzlich starben mehr als 50 Migranten, die zuvor von der libyschen Küstenwache gerettet und in ein staatliches Aufnahmezentrum in Libyen gebracht worden waren, durch einen Raketenbeschuss regierungsfeindlicher Truppen. Was kann die EU dagegen tun?

Jean Asselborn: Nach meinen Informationen waren die Migranten in einem Militärlager untergebracht. Ziel des Raketenbeschusses waren wohl nicht die Migranten, sondern die Waffendepots der Regierung.

Die Welt: Und in diesem Fall sind die Europäer hilflos?

Jean Asselborn: Die Europäer bilden die libysche Küstenwache im Rahmen der Mittelmeermission "Sophia" aus. Darum haben wir natürlich eine Verantwortung dafür, was die libysche Küstenwache mit den Menschen, die zuvor im Mittelmeer gerettet wurden, macht. Die Europäische Union muss dringend auf die international anerkannte Regierung in Libyen einwirken, damit die libysche Küstenwache die geretteten Migranten nicht mehr wie bisher in Militärlager -die leicht Ziel von kriegerischen Angriffen werden können - sondern in die Einrichtungen des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) und der Internationalen Organisation für Migration (IOM) bringt.

Die Welt: Gibt es denn genügend Plätze?

Jean Asselborn: In Libyen werden dringend etwa sechs Aufnahmelager für jeweils tausend Migranten benötigt. Diese Lager sollten nur vom UNHCR und lOM verwaltet werden. Die libysche Regierung sollte endlich erlauben, dass Lager unter dem Dach von UNHCR und lOM aufgebaut werden können, damit die Migranten human betreut werden und sicher sind.

Die Welt: Neben der Migrantion aus Afrika hat Europa noch viele andere Probleme. Selbst die Einigung auf die Topjobs in der EU wurde zu einem peinlichen Schauspiel. Wo würden Sie den Zustand Europas auf einer Skala zwischen eins und zehn einordnen?

Jean Asselborn: Bei sechs.

Die Welt: Was hat Sie bei der Auswahl der europäischen Spitzenämter besonders irritiert?


Jean Asselborn: Wir haben ein Problem in Europa, wenn mehrere Regierungschefs sagen, wir wollen den Ersten Vizepräsidenten der EU-Kommission nicht als künftigen Kommissionschef, nur weil er seinen Job gemacht hat.

Die Welt: Sie meinen den Spitzenkandidaten der Sozialdemokraten; Frans Timmermans.

Jean Asselborn: Es geht hier gar nicht in erster Linie um Namen oder Parteien, sondern um das Prinzip. Der Erste Vizepräsident der EU-Kommission ist zuständig dafür zu überprüfen, ob rechtsstaatliche Prinzipien in allen Mitgliedsländern eingehalten werden. Er hat seine Arbeit gut gemacht44o ich kann Ihnen sagen, wie schwer das war. Ich habe mehrmals in dem entsprechenden Gremium der Mitgliedstaaten erlebt, wie mühsam es war, über mögliche Verstöße gegen den Rechtsstaat in bestimmten EU-Ländern zu beraten - manchmal ging das nur mit einer Stimme Mehrheit, sonst wäre das Thema nicht einmal auf die Tagesordnung gelangt.

Die Welt: Orban, Babis & Co. haben sich aber letztlich durchgesetzt und Timmermans als Kommissionschef verhindert.

Jean Asselborn: Es ist erschreckend, dass mitten in Europa die Unabhängigkeit der Justiz und die Freiheit der Presse unterwandert werden. Es ist erschreckend, wenn sich die dafür verantwortlichen Regierungschefs dann auch noch durchsetzen bei wichtigen Personalentscheidungen. Die ganze Welt beneidet uns für unsere demokratischen Prinzipien, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg in der EU entwickelt haben. Dazu gehört der Rechtsstaat, der in allen Mitgliedsländern funktioniert. Wenn das kaputt gemacht wird, dann gerät das Friedensprojekt Europa in Gefahr.

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