Interview von Jean Asselborn in den Lübecker Nachrichten

"Wir wehren uns"

Interview: Lübecker Nachrichten (Damir Fas)

Lübecker Nachrichten: Herr Asselborn, diese Europawahl, so heißt es, sei eine Schicksalswahl. Sehen Sie das auch so? 

Jean Asselborn: Schicksal ist ein großes Wort. Es ist eine wichtige Wahl, sogar eine sehr wichtige. Ich bin davon überzeugt, dass wir nach dem 26. Mai sehen werden, dass die große Angst, die wir seit fast zwei Jahren haben, sich nicht bestätigen wird - die Angst vor den Parteien, die Europa nicht verändern, sondern kaputt schlagen wollen. Diese Parteien werden vielleicht ein wenig zulegen, aber oben werden die europafreundlichen Parteienfamilien stehen. 

Lübecker Nachrichten: Aber erstmals haben die Europhoben die Chance, zweitstärkste Kraft im Europaparlament zu werden.

Jean Asselborn: Abwarten. Ich will aber nicht leugnen, dass wir mit dem Problem des sogenannten Illiberalismus in Ungarn seit mindestens 2010 zu kämpfen haben. In Polen stellt die Regierung die Unabhängigkeit der Justiz infrage. In Rumänien wurde ein Amnestiegesetz erlassen, wonach Leute, die wegen Korruption verurteilt wurden, wieder an den Trog der Macht zurückkehren dürfen. In Deutschland hat die AfD mehr als 12 Prozent der Stimmen bei der Bundestagswahl bekommen. In Ländern wie Italien sind nationalkonservative Populisten in den Regierungen, und in Frankreich hält sich der Le-Pen-Clan schon seit Jahrzehnten.

Lübecker Nachrichten: Ein ziemlich umfangreicher Katalog.

Jean Asselborn: Das tut weh, weil elementare Grundsätze der Europäischen Union wie Menschenrechte, die Freiheit der Presse, die Unabhängigkeit der Justiz mit Füßen getreten werden. Aber wir müssen uns wehren. Es gibt da den Artikel sieben, das Rechtsstaatsverfahren, das zum Entzug des Stimmrechts führen kann. Und wir haben jetzt erstmals die Chance, dass Rechtsstaatssünder weniger Geld aus Brüssel bekommen könnten.

Lübecker Nachrichten: Aber das muss einstimmig beschlossen werden. Ungarn und Polen werden das nicht mitmachen. 

Jean Asselborn: Irgendwann einmal kommt der Augenblick, in dem die Frage gestellt wird: Wer will die Essenz der Europäischen Union weitertragen und wer nicht? Es gibt Grundregeln in der EU, und an die müssen sich alle halten. Es kann ja wohl nicht sein, dass zwei, drei Länder die gesamte Gemeinschaft ausbremsen. Wir haben eine immense Verantwortung dafür, dass dieses Friedensprojekt Europa nicht im 21. Jahrhundert zerhackt wird, weil einzelne Regierungen sich nicht solidarisch zeigen wollen. Europa wurde auf einem Fundament aus Menschenrechten, der Freiheit der Presse und der Freiheit der Justiz gebaut. Die Populisten, Nationalisten und Extremisten schert das nicht. Sie stellen die Rechtsstaatlichkeit infrage, und das müssen wir immer und immer wieder sagen.

Lübecker Nachrichten: Heißt das, dass weitere Austritte drohen und die EU kleiner wird? 

Jean Asselborn: Das muss es nicht heißen. Es ist ja nicht gerade ansteckend zuzusehen, wie sich die Briten mit dem Brexit quälen. Außerdem hindert niemand diese Regierungen daran, sich wieder an europäische Grundwerte zu halten. Das Geld aus Brüssel nehmen sie doch auch gerne.

Zum letzten Mal aktualisiert am