"Träumen kann man immer"

Interview von Jean Asselborn im Tageblatt

Interview: Tageblatt (Armand Back)

Tageblatt:  Die Venezuela-Krise spaltet die Welt. Auch in Luxemburg wird kontrovers diskutiert und gestritten. Wie sehen Sie die Debatte?

Jean Asselborn: Mir ging es in der Debatte nicht um Trump und Putin oder Maduro und Guaidó. Mir ging es — und den meisten anderen EU-Außenministern auch — um die Venezolaner, die seit Jahren leiden, sozial, materiell und politisch. In dieser Logik muss Europa Position beziehen, kann nicht neutral sein, nicht gleichgültig. Natürlich wäre es einfacher, wegzuschauen, aber das ist der falsche Weg.

Tageblatt: Fürchten Sie nicht, dass dieses Beispiel Schule machen könnte?

Jean Asselborn: Es gibt ja eine Einschränkung! Das ist spezifisch auf die Situation in Venezuela bezogen. Wo die Gefahr eines Bürgerkrieges hoch ist. Wo ein militärischer Staatsstreich nicht ausgeschlossen werden kann. Im Falle Venezuelas, wo Millionen Menschen europäischer Abstammung leben, müssen wir als Europa unsere Stimme erheben. Es wäre auch falsch, alleine die USA das Schicksal dieses Landes bestimmen zu lassen. Wenn wir wegschauen, dann sind wir weg, dann hat Europa keinen Einfluss auf die Zukunft Venezuelas.

Tageblatt: Aber mit dem Ultimatum wurde dem amtierenden Präsidenten Nicols Maduro quasi das Messer auf die Brust gesetzt. Den meisten Beobachtern war klar, dass er nicht einlenkt...

Jean Asselborn: Es gibt nur einen Ausweg aus der Situation, und das sind vorgezogene Präsidentschaftswahlen. Um diese in die Wege zu leiten, gibt es auch nur einen Hebel: Den Präsidenten des Parlamentes befähigen, diese Wahlen zu organisieren. Und wir haben den Präsidenten des Parlamentes nie als Präsident Venezuelas angesehen. Sondern als Instrument, um Neuwahlen herbeizuführen.

Tageblatt: Einfach war die Entscheidungsfindung nicht, auch die Europäer konnten sich nicht einigen.

Jean Asselborn: Die Debatte kam auf unter den EU-Außenministern. Da gab es zwei Gruppen, und die meisten Staaten befanden sich zwischen diesen. In der ersten Gruppe waren Griechenland und Zypern, von denen wir wissen, dass eine Großmacht aus dem Osten sehr viel Einfluss hat. Hinzu kam Italien, wo wir wiederum wissen, dass die Regierungspartei Cinque Stelle Verflechtungen spezieller Natur mit dem Maduro-Regime hat. In der anderen Gruppe waren vor allem Spanien und Portugal, die dafür plädierten, dass wir Position beziehen müssen — und das bereits seit Wochen. Aus deren Sicht mussten Schritte eingeleitet werden, damit der Parlamentspräsident als Interimspräsident gesehen wird, der Präsidentschaftswahlen organisieren kann.

Tageblatt: Hätten Sie eine andere Lösung bevorzugt?

Jean Asselborn: Ich selber fühlte mich nahe an Schweden und Belgien. Wir pochten weniger auf den Titel "Interimspräsident" und stärker darauf, dass ein Ausgang nur über Neuwahlen möglich ist. Das war die Position am vergangenen Donnerstag und Freitag beim Treffen der EU-Außenminister. Dann gingen wir auseinander. Ohne einheitliche Position, aber mit dem Vorhaben, es am Montag in Brüssel erneut zu versuchen. Also wurde ein Text aufgestellt, hinter dem sich die meisten Staaten hätten versammeln können. Dieser Text wurde am Montag von Italien gebrochen. Ab dem Zeitpunkt musste Luxemburg Farbe bekennen: Entweder steht das Land auf der Seite von Italien und Griechenland oder auf der von Spanien und Portugal. In einer solchen Frage kann ein Land keine neutrale Position beziehen. In einem Parlament geht das, aber nicht, wenn es im EU-Ministertreffen zur Sache geht.

Tageblatt: Die Entscheidung hat viel Kritik hervorgerufen, hat Sie das überrascht?

Jean Asselborn: Diese Position ist kritikfähig, das ist klar. Das akzeptiere, ich auch. Aber was wäre die Alternative? Augen zu und durch und nichts machen? Das ist, wenn man sieht, wie das venezolanische Volk leiden muss, nicht vertretbar. Wir können jetzt über Ursachen und über Schuld reden. Aber es war nicht Europa, das die Misere in Venezuela provoziert hat, das war eher der große nördliche Nachbar. Doch das spielt in dieser Diskussion keine Rolle. Hier kommen vor allem zwei Sachen zusammen: Die soziale Situation in diesem Land und dass man den Venezolanern nicht zumuten kann, ihnen als Europa keinen Ausweg aus dieser Situation anzubieten.

Tageblatt: Sie pochen immer auf die europäische Solidarität. Hat auch das Ihre Entscheidung beeinflusst?

Jean Asselborn: Wir haben doch keine Solidarität, genau das haben wir ja nicht fertiggebracht: Wir haben keine gemeinsame Position! Ich bin jetzt 15 Jahre Außenminister, in den allermeisten Fällen haben wir es geschafft, einen Konsens herzustellen und mit einer Stimme zu reden, auch wenn es nicht immer einfach war.

Tageblatt: Diese Zeiten scheinen vorbei ...

Jean Asselborn: Am vergangenen Montag haben wir in gleich drei Fragen versagt: Wir haben keine einheitliche Erklärung zwischen der EU und der Arabischen Liga hinbekommen, weil Ungarn wegen eines Paragrafen zur Migration blockiert hat. Wir haben bis dato versagt, eine gemeinsame Position in Sachen Mittelstreckenraketen zu finden. Und dann diese Frage. Und mir bereitet alles Kopfschmerzen, wo wir nicht zu einer einstimmigen Entscheidung kommen. Denn dann muss man sein Lager suchen. Wenn wir aber eine Linie haben und jeder solidarisch ist, haben wir erstens viel mehr Schlagkraft und zweitens kommen solche Debatten nicht mit dieser Heftigkeit auf den Tisch.

Tageblatt: Wird es demnach nicht Zeit, die Einstimmigkeit im EU-Rat bei außenpolitischen Entscheidungen abzuschaffen?

Jean Asselborn: Träumen kann man immer. Luxemburg will das. Zwei, drei andere Staaten auch: Dass wir davon wegkommen, dass ein Land in der Außenpolitik alles blockieren kann. Doch das ist eine Illusion. Um dahin zu kommen, müssen die europäischen Verträge geändert werden - und dafür bräuchte es Einstimmigkeit. Und nach den Europawahlen, wenn die Kräfte, die Europa zersetzen wollen, vielleicht gestärkt werden, wird es noch schwieriger.

Tageblatt: Befürchten Sie nicht, dass die Entscheidung der 20 EU-Staaten, die Fronten in der Venezuela-Krise weiter verhärtet?

Jean Asselborn: Wenn man nicht neutral ist, geht man immer ein gewisses Risiko ein. Ich sehe aber nicht, wie man hätte Position beziehen können, dabei nicht neutral bleibt und gleichzeitig nicht sagt, was man will. Wenn man Neuwahlen sagt, muss man wissen, dass die nicht vom Himmel fallen.

Tageblatt: Aber Staaten wie Mexiko oder Uruguay wollten vermitteln. Hätten die Europäer nicht diesen Weg gehen können?

Jean Asselborn: Diese Vermittlung hat doch längst stattgefunden. Das kam ja alles nicht von heute auf morgen. Die Spanier vermitteln seit zwei Jahren zwischen Opposition und Regime, um demokratisch aus diesem Schlamassel herauszukommen. Das hat nicht funktioniert.

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