Interview von Jean Asselborn in "Die Welt"

„Wir müssen den Türken weiter Hoffnung geben“

Interview: Die Welt (Christoph B. Schiltz)

WELT: Herr Minister, die SPD tut sich schwer damit, erneut in eine große Koalition einzutreten. Können Sie das als Luxemburger Sozialdemokrat verstehen? 

JEAN ASSELBORN: Ich weiß, wie schwierig das ist für die SPD. Aber ich denke, diejenigen Sozialdemokraten haben recht, die sagen, die Schwäche der SPD hat nicht nur mit der großen Koalition in der Vergangenheit zu tun. 

WELT: Aber die Regierungsbeteiligung als Juniorpartner hat sich für die SPD bisher nicht ausgezahlt. 

JEAN ASSELBORN: Die Mitarbeit in einer neuen großen Koalition kann für die SPD eine echte Chance sein, wieder nach vorne zu kommen. Darum sollte sie auch erneut Regierungsverantwortung übernehmen. Die SPD kann dann zeigen, dass sie für die einfachen Menschen etwas bewegen und mehr soziale Gerechtigkeit durchsetzen kann. Eine Einschränkung der befristeten Arbeitsverträge, bezahlbaren Wohnraum oder eine gerechtere Gesundheitspolitik wird es ohne die SPD nicht geben. 

WELT: Was würde eine neue große Koalition für Europa bedeuten? 

JEAN ASSELBORN: Wenn die SPD im größten EU-Land in der Regierung sitzt, würde das auch den sozialdemokratischen Parteien in Europa einen Schub geben. Es würde einfacher, am Verhandlungstisch in Brüssel eine sozialere Politik in der Europäischen Union durchzusetzen. Die Antwort Deutschlands auf Macrons Reformpläne wird mit der SPD sicherlich konstruktiv ausfallen. Die SPD ist eine Partei mit einer großen Geschichte, die Kraft besitzt und viel für Europa geleistet hat. 

WELT: Warum ist die Sozialdemokratie überall in Europa unter Druck? 

JEAN ASSELBORN: Erstens: Die klassische Arbeiterschaft, wie ich sie noch in meiner Jugend erlebt habe, ist weitgehend verschwunden. 
Zweitens: Die Finanzkrise 2008 hat uns mehr zugesetzt als den Christdemokraten. Die Sozialdemokraten mussten europaweit Reformen mitvertreten, die häufig finanzielle Abstriche und den Abbau sozialer Errungenschaften bedeuteten. Zur gleichen Zeit wurden die Reichen immer reicher. Die Sozialdemokratie befindet sich in einer Delle. Wir müssen künftig mehr dafür tun, dass die Einkommen gerechter verteilt werden und auch die sogenannten kleinen Leute, die hart arbeiten, ein gutes Leben führen können. 

WELT: SPD-Chef Schulz hat, ebenso wie Kanzlerin Merkel, einen völligen Abbruch der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei gefordert. 

JEAN ASSELBORN: Die Beitrittsverhandlungen mit Ankara sind praktisch eingefroren. Aber die Europäer sollten sie nicht endgültig abbrechen. Mindestens die Hälfte der türkischen Bevölkerung ist proeuropäisch. 
Wir müssen diesen Menschen weiter Hoffnung geben, dass Europa ein Anker bleibt und es eine Perspektive nach Präsident Erdogan gibt. 

WELT: Ist ein EU-Beitritt der Türkei noch möglich? 

JEAN ASSELBORN: Wir sind eine Union von Werten. Wir werden die Verletzung von demokratischen Grundrechten wie Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei niemals akzeptieren. Unter diesem Präsidenten und unter den heutigen Bedingungen ist ein EU-Beitritt der Türkei nicht möglich. Die Türkei hält ohne jeden Zweifel die Kopenhagener Kriterien, deren Umsetzung ja notwendig ist für eine EU-Mitgliedschaft, nicht ein. 

WELT: Ankara drängt auf visafreie Reisen in die EU. Ist das realistisch? 

JEAN ASSELBORN: Die Türkei muss ihre Politik grundsätzlich ändern und große Schritte in Richtung Demokratie machen. Ich sehe nicht, dass in diesem Jahr die Beitrittsverhandlungen wieder aufgenommen, eine Visaliberalisierung eingeführt oder eine Erweiterung der Zollunion realisiert werden können. 

WELT: Nicht nur die Türkei macht der EU Probleme, auch Polen. Die EU hat ein Rechtsstaatsverfahren gegen Warschau eingeleitet, weil die Unabhängigkeit der Justiz gefährdet ist. 
Die polnische Regierung kann jederzeit reagieren, um das Verfahren aufzuhalten. Jetzt, wo ein neuer Premierminister und ein neuer Außenminister ernannt wurden, sollte Polen einmal tief durchatmen. Und man sollte sich fragen, ob es dem Land wirklich nutzt, rechtsstaatliche Prinzipien zu verletzen und sich mit Ungarns Regierungschef Orbän zu verbünden. 

WELT: Was passiert, wenn die Regierung nicht einlenkt? 

JEAN ASSELBORN: Dann wird es Risse geben in Europa. Und wenn Risse da sind, geht es nicht nur ums Geld, sondern um das Ganze. 

WELT: Beim letzten Treffen der EU-Außenminister stand Nahost im Mittelpunkt. Wie ist die Lage? 

JEAN ASSELBORN: Der Streit zwischen Israelis und Palästinensern gehört zu den weltweit ältesten Konflikten. Es gab immer wieder hoffnungsvolle Ansätze, zuletzt die UN-Resolution 2334 Ende 2016. Aber jetzt? Alles geht in die falsche Richtung. Es gibt kaum noch Hoffnung.

WELT: Warum?  

JEAN ASSELBORN: Es ist unverantwortlich von US-Präsident Trump, während eines politischen Prozesses, der noch nicht abgeschlossen ist, zu sagen, Jerusalem ist nur die Hauptstadt von Israel.  

WELT: Das war doch schon lange vor Trump die Position der Amerikaner.  

JEAN ASSELBORN: Nein, das war sie nicht. Seit Mitte der 2000er-Jahre hat Präsident George W.  Bush für die USA das Prinzip der Zwei-Staaten-Lösung mitgetragen und damit den Palästinensern einen Staat zugestanden. Mit Trumps Entscheidung ist die Zwei-Staaten-Lösung aber faktisch gestorben. Hinzu kommt die Siedlungspolitik der Israelis, die immer weiter fortschreitet. Derzeit leben 600.000 Siedler im Westjordanland und in Ost-Jerusalem. Die EU hat übrigens Mitte Dezember einstimmig Trumps Jerusalem-Entscheidung im Europäischen Rat verurteilt.  

WELT: Sechs EU-Länder haben sich danach aber bei der Abstimmung in der UN-Vollversammlung enthalten.  

JEAN ASSELBORN: Das zeigt, dass die EU heute - anders als früher - in der Nahost-Frage keine gemeinsame Linie mehr hat. Solange das so ist, haben wir aber keinen Einfluss.  Ohne eine gemeinsame Linie sind wir nichts.  

WELT: Sind die Europäer jetzt besonders gefordert, nachdem Washington weniger aktiv zu sein scheint?  

JEAN ASSELBORN: Wir hatten bereits 2009 eine Entschließung, dass die EU zur Zwei-Staaten-Lösung, zu Jerusalem als Hauptstadt beider Staaten und zu den Grenzen von 1967 steht. Aber seit ein paar Monaten ist es unmöglich, das alles noch einmal aufs Papier zu bringen. Allen Beteiligten sollte klar sein: Solange die Palästinenser keine Heimat haben, kann es keinen Frieden im Nahen Osten geben. Darum wäre die Zwei-Staaten-Lösung auch im vitalen Interesse Israels.  

WELT: Hat die Auseinandersetzung zwischen Iran und Saudi-Arabien um die Vormachtstellung in der Region Auswirkungen auf den Friedensprozess?  

JEAN ASSELBORN: Der gefährliche regionale Konflikt zwischen einer von Saudi-Arabien angeführten Allianz und dem Iran darf auf keinen Fall als Vorwand dienen, um die Palästinenser politisch zu entrechten und die Zentralität des israelisch-palästinensischen Konflikts infrage zu stellen.  

WELT: Sind Sie für ein neues Wirtschaftsabkommen mit den Palästinensern?  

JEAN ASSELBORN: Ich halte es für sinnvoll, möglichst bald ein Assoziierungsabkommen zwischen der EU und Palästina abzuschließen.  Das würde europäische Direktinvestitionen fördern, neue Handelsmöglichkeiten eröffnen und Arbeitsplätze in wirtschaftlich problematischen Gebieten wie Gaza schaffen. Ein solches Abkommen wäre ein Signal der Unterstützung für die Palästinenser.

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